Beskiden-Odyssee

 

Gern werde ich von westeuropäischen Kollegen gefragt, warum ich immer wieder in den Osten reise. Es gibt viele Gründe dafür und einer davon ist, dass ich den sogenannten Osten mittlerweile interessanter als den Westen finde.

Natürlich hat das damit zu tun, dass ich aus dem sogenannten Westen stamme, den ich, so wie die meisten Altersgenossen, bereits in jüngeren Jahren bereist habe und, anmaßend ausgedrückt, zu kennen glaube. Und natürlich gibt es auch dort für mich noch so manches zu entdecken, doch der Osten ist einfach ungemein spannend. Wenn man bereit ist, über den Tellerrand westeuropäischer Perspektiven zu blicken.

Ich fahre gerne in Gegenden, die ich noch nicht kenne. Diesmal waren es die Bieszczady oder Ostbeskiden, ein Teil der Waldkarpaten im südöstlichen Polen und der Ukraine. Die Fahrt dorthin ist lang. Wenn man nach Krakau von der Autobahn abbiegt, wird man von Google auf romantische Abwege geführt – kurvige Landstraßen, die durch sonniges Hügelland führen und die Fahrtdauer beachtlich verlängern. Temperamentvolle Polen preschen im Gegenverkehr knapp an uns vorbei und zum Schluss rasen auch wir, um endlich ans Ziel zu gelangen.

Das Ziel heißt Wetlina, ein Dorf am Rande des Nationalparks Bieszczady. Unsere Gastgeber warten mit frischer Gemüsesuppe und Pierogi auf – eine wahre Gaumenfreude, nicht nur für Vegetarier. Am nächsten Vormittag brechen wir zu den Wetliner Poloninen auf. Die Poloninen (polnisch „połoniny“) sind unbewaldete Kammlagen oder Höhenzüge, vergleichbar mit unseren Almen. Wahrscheinlich waren sie früher bewaldet und wurden zu Weidezwecken abgeholzt.

Falls ich an dieser Stelle eine Empfehlung aussprechen darf, so lautet sie: Fahrt nicht in den Ferien in die Beskiden. Zahlreiche polnische Familien haben die gleiche Idee. Bei gutem Wetter gleicht eine Wanderung auf die Poloninen einer Massenwallfahrt und auf den Holzstufen, die vielerorts in die Erde gehämmert wurden, um das Gehen zu erleichtern, es paradoxerweise aber erschweren, schnaufen, schwitzen und drängen die Bieszczady-Pilger aneinander vorbei.

Am Gipfelkreuz der Tarnica, der höchsten Erhebung der polnischen Beskiden (1346 m).

In den Beskiden finden sich kaum Nadelbäume, denn das Klima ist im Sommer zu trocken und im Winter zu rau und windig. Typisch sind ausgedehnte Buchenwälder.

Die Tierwelt der Bieszczady ist einzigartig. In freier Wildbahn leben hier alle Tierarten Mitteleuropas: Braunbär, Wolf, Luchs, Wildkatze, Wisent und … Karpatenmolch. Mein Traum, einem Luchs zu begegnen, erfüllt sich nicht, denn diese wunderschönen Großkatzen sind scheu. Auch Wolfsgeheul, im Winter angeblich oft zu vernehmen, bleibt mir vorenthalten. Vielleicht ist das besser so.

Der Grund für die intakte Natur der Bieszczady ist ein historisch-politischer, und damit sind wir wieder bei einem meiner Lieblingsthemen, der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Unser Gastwirt, Herr Zbigniew Maj, hat ein Buch mit dem Titel „Bieszczadzka Odyseja“ geschrieben („Beskiden-Odyssee“). Es beschreibt die Odyssee seiner Eltern, die sich in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts in den menschenleeren Bieszczady niederließen.

Warum menschenleer? Wetlina sei früher ukrainisch gewesen, erzählt der Autor, doch die Ukrainer hätten das Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen und ihre Häuser seien niedergebrannt worden. Ich bin verblüfft. Warum gingen sie fort? Mussten sie gehen? Wer brannte ihre Häuser nieder?

Das südöstliche Polen hat eine äußerst bewegte Geschichte. Die Grenzverläufe in der Region haben sich auch im 20. Jahrhundert immer wieder signifikant geändert und was vor 1918 Galizien in Österreich-Ungarn und danach Polen war, ist heute Ukraine. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung war bunt: Ukrainer, Polen, Juden, Russen, Deutsche. In der Zwischenkriegszeit konkurrierten an Polens umstrittenen Grenzen, die weit nach Osten und Südosten reichten, slawische Nationalismen. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in Ostgalizien Ukrainer waren, wurde das Gebiet von Polen als polnisch betrachtet. In Lemberg wiederum („Lwów”), das als kulturelles Zentrum Polens galt, waren nur 20% der Bewohner Ukrainer. Als Hitler kam, gerieten die ethnischen Konflikte vollends aus den Fugen. In Wolhynien, das heute zur Ukraine gehört, ermordeten 1943 ukrainische Partisanen 100 000 polnische Zivilisten auf bestialische Art und Weise. Bei polnischen Vergeltungsaktionen kamen 10 000 Ukrainer ums Leben. Was in „Wołyń“ geschah, ist für die Polen bis heute eine hoch emotionale Materie und Teil des nationalen Opfernarrativs. Der Regissseur Wojciech Smarzowski hat sie in seinem drastischen, kaum aushaltbaren Filmepos „Wołyń“ thematisiert.

Weniger bekannt ist, was nach Kriegsende geschah. 1947 startete die polnische Regierung die „Aktion Weichsel“ („Akcja Wisła“). Um in Hinkunft ethnische Konflikte auszuschalten, wollte man einen homogenen Nationalstaat schaffen. Dies wurde auch von Sowjetrussland unterstützt. Um der antipolnischen und antirussischen UPA, der Ukrainischen Aufständischen Armee, die während des Krieges unter ständigem Wechsel der Bündnispartner für die Errichtung eines nichtkommunistischen ukrainischen Nationalstaats gekämpft hatte, die Basis zu entziehen, beschloss man, die ukrainische Zivilbevölkerung aus der Region auszusiedeln. Ursprünglich war vereinbart worden, dass dies freiwillig geschehen solle, doch wie so oft, endete es in Zwangsaussiedlung. Die polnische Armee umstellte die Dörfer und die Bewohner hatten wenige Stunden, manchmal auch nur eine halbe, um das Nötigste zu packen. Anschließend wurden sie in bewachten Zügen in die „neu gewonnenen“ Gebiete im Norden und Westen Polens, in denen früher Deutsche gelebt hatten, deportiert. Nach Loyalitäten wurde nicht gefragt; allein die ethnische Zugehörigkeit entschied. In ihrer neuen Heimat wurden die Ukrainer zerstreut, denn man wollte Gruppenbildung vermeiden. Sie sollten sich rasch assimilieren und ihre ethnische Herkunft vergessen. Auch der scheidende polnische Ombudsman Adam Bodnar, ein weltanschaulicher Opponent der PiS-Regierung, ist ein Nachkomme ukrainischer Aussiedler.

Herr Zbigniew Maj, Eigentümer der Pension “Rohowy Dom” in Wetlina.

Nachdem ich all dies in Erfahrung gebracht habe, muss ich Herrn Maj nun doch fragen, wer das Dorf Wetlina in Schutt und Asche legte. Waren es die Ukrainer selbst, die verbrannte Erde hinterlassen wollten? Oder war es die polnische Armee? Falls es die Polen waren, würde Herr Maj, der vielleicht doch ein konservativer Pole zu sein scheint, es zugeben? Darf ich ihn das fragen?

Natürlich. Ich muss es ihn sogar fragen, denn gerade Heikles muss an- und ausgesprochen werden, sonst fristet es ein gefährlich spekulatives Leben.

Wie groß ist meine Erleichterung, als er ohne Umschweife zugibt, dass es die Polen waren. Die Armee wollte verhindern, dass die ehemaligen Dorfbewohner, versprengte Ukrainer oder Angehörige der UPA, die sich im Wald versteckt hatten, in die Häuser zurückkehrten. Wir sprechen nun ganz offen über alles und ich höre nicht mehr auf zu fragen. Bevor wir abreisen, kaufe ich sein Buch.

Ich sollte mich nun endlich in seine Familiengeschichte vertiefen. Wenn – ja wenn – nicht schon die nächste Entdeckungsreise auf dem Programm stünde.

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Hinter uns die Ukraine!

Auch im katholischen, nationalkonservativen Südosten Polen stößt man mitunter auf erfrischend anarchistische Koexistenzen. Hier Jesus und Che an der Fassade des Restaurants eines Motorrad-Clubs in Wetlina.

Diese wunderschöne, griechisch-katholische Holzkirche (1791) steht in Smolnik. Sie hat die Wirren der Zeiten überlebt.

Grab eines jungen Ukrainers, der 1948 im Alter von 20 Jahren starb. Wie kam er ums Leben?

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