Zu diesem Behufe: Hommage an meinen Lehrer

Vor einigen Tagen erhielt ich die Nachricht vom Tod eines meiner Universitätslehrer. Er war während des Dolmetschstudiums mein Französischlehrer gewesen. Wir hatten schon länger nichts mehr voneinander gehört, ein Umstand, der mir in diesem Augenblick schmerzlich zu Bewusstsein kam. Plötzlich fand ich das wirklich schade. Hätte ich mich nicht nach seinem Befinden erkundigen sollen? Gerne hätte ich ihm noch so manches gesagt.

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Wenn man es als ein erstrebenswertes Ziel erachtet, für eine europäische Institution zu arbeiten, so habe ich es in meinem Beruf recht weit gebracht. Ich mache sogar das, was ich studiert habe – auch das ist keine Selbstverständlichkeit.

Als ich vor vielen Jahren mit dem Studium in Graz begann, hätte ich mir das nicht träumen lassen. Im Jahr zuvor war ich in Paris gewesen. Ein großartiges, mitunter nicht einfaches, jedenfalls aber prägendes Jahr, in dessen Verlauf ich über der Lektüre von Sartre und Simone de Beauvoir aus mir heute nicht mehr ganz erfindlichen Gründen beschloss, mein begonnenes Germanistik- und Romanistikstudium an den Nagel zu hängen und ein Übersetzerstudium zu beginnen. Ans Dolmetschen dachte ich damals noch nicht, denn das gleichzeitige Hören und Wiedergeben des Gesagten in einer anderen Sprache schien mir ein Ding der Unmöglichkeit. Ich bin ein schriftlicher Typ und liebe den sorgfältigen Umgang mit der Sprache. Dafür braucht man Zeit. Der Stress, der in diesen Dolmetschkabinen herrschen musste, erschien mir unerträglich. Zu Beginn des Studiums saßen die künftigen Übersetzer und Dolmetscher gemeinsam in Übungen, in denen es galt, oft enttäuschend langweilige Texte, die mit der von mir erträumten Literatur wenig zu tun hatten, von der Fremdsprache in die Muttersprache und umgekehrt zu übertragen.

In einer der ersten Übersetzungsübungen aus dem Französischen ins Deutsche, die im Veranstaltungssaal eines ehemaligen Klosters stattfanden, stolzierte ein seltsamer Mann herein. Er war von großer Gestalt, hatte ein blasses Gesicht und trug einen altmodischen Anzug mit einer etwas zu kurzen Hose. Seine Mine war säuerlich, als bedauerte er es, hier sein zu müssen. Beinahe hätte ich gelacht. Doch zum Lachen war uns bald nicht mehr zumute, denn er machte uns Angst. Es gab kaum einen Satz, den wir als Übersetzung ins Deutsche vorschlugen, der ihn zufriedenstellte, kaum eine Formulierung, die nicht sein Missfallen erregte. Wir hatten das Gefühl, fehl am Platz zu sein, unfähig, seinen stilistischen Anforderungen im Deutschen zu genügen.

In der Hoffnung, nicht aufgerufen zu werden, hielt ich den Kopf gesenkt und starrte auf mein Blatt. Umso größer war mein Erstaunen, als, nachdem ich eines Tages doch aufgerufen worden war, mein zaghaft beigebrachter Vorschlag Gefallen fand. Sinnierend und mit halb geschlossenen Augen wiederholte er meine Übersetzung und befand sie für gut. Das war ein Schlüsselerlebnis. Er war auf mich aufmerksam geworden und wollte von nun an immer wieder meine Vorschläge hören. Ich gab mir Mühe, saß stunden-, ja tagelang über den zu übersetzenden Texten, drehte im Geiste die Sätze wie Kleinode hin und her, suchte nach Synonymen, feilte am Ausdruck. Meine sprachökonomische Neigung schien ihm zu gefallen: Auch er wollte jedes Wort am rechten Platz wissen, auch er liebte Prägnanz und Präzision. Ich hing an seinen Lippen, wenn er eigene Vorschläge machte, und litt, wenn er mich kritisierte. Ich war überzeugt, dass mich mit diesem anspruchsvollen Lehrer eine sprachliche Seelenverwandtschaft verband. Eine Empfindung, die mich für den Rest des Studiums beflügeln sollte.

Immer öfter war es sehr lustig mit ihm. Sein Humor war kauzig und knochentrocken und oft wusste man nicht, ob er ernst meinte, was er gerade sagte. Seine wunderlichen, bizarren Glossen fand ich überaus erheiternd. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm.

Er ermunterte mich, es mit dem Dolmetschen zu versuchen. Als wir zum ersten Mal im Sprachlabor saßen und es tatsächlich taten, scheiterten wir grandios. Wie sollte das gehen, hören und reden zugleich, konnte ich das überhaupt, war ich denn der Typ dafür? Ganz sicher bin ich mir da bis heute nicht, aber feststeht, dass ich es gelernt habe und er keinen geringen Anteil daran hatte. Die Dolmetschdidaktik steckte damals noch in den Kinderschuhen, wir wurden von so manchen ins kalte Wasser geworfen und mussten schwimmen lernen. Er bemühte sich immerhin, uns heranzuführen, in Ansätzen systematisch vorzugehen. Als Konferenzdolmetscher, der sich in höchsten Sphären bewegte und französische Staatsoberhäupter im Fernsehen dolmetschte, ja sogar bei der KSZE in Wien tätig war, von der er uns mit seltsamen Begriffen über „Körbe“ und Kurzstreckenraketen versorgte, blickten wir zu ihm auf wie zu einem Abgesandten aus einer anderen Welt.

Um ihm zu gefallen, paukte ich nächtelang französische Idiomatik, las den Wirtschaftsteil der Zeitung und vertiefte mich in das Banken- und Bilanzwesen, einen Bereich, der ansonsten nicht zur Lektüre meiner Wahl gehört hätte.

Eines Tages eröffnete er uns, in seinem Wohnzimmer stünde jetzt ein Apple Computer. Die Hardware sei installiert, es fehle nur noch die entsprechende Software. Wir hatten keine Ahnung, wovon er redete. Mitte der Achtzigerjahre hatte niemand einen Computer zu Hause stehen. Wofür brauchte ein Dolmetscher sowas? Ein paar Jahre später standen mehrere kleine, weiße, modulartige Apple Computer in der Bibliothek des Dolmetschinstituts und wir erstellten mit Begeisterung Texte und Glossare in verschiedensten Schriftarten, die es im damaligen Textverarbeitungsprogramm bereits gab.

Manchmal hat er es nicht einfach mit mir gehabt. Mit der Zeit wurde ich übermütig, vielleicht sogar frech. Ich wollte ihn aus der Reserve locken. Als ich mich einmal über eine meines Erachtens zu strenge Bewertung beschwerte, meinte er: „Sie wissen genau, warum ich strenger zu Ihnen bin. Sie können mehr!“ Das war ein Kompliment, aber damals erschien es mir wie eine Absage. Später einmal sagte er, ich sei provokant gewesen. Das verletzte mich fast. Wollte ich nicht einfach seine Anerkennung, sein Lob? Ja, ich gebe zu, ich bin wohl auch ein bisschen verliebt in ihn gewesen. Es war die vermeintliche Seelenverwandtschaft, dieses wunderschöne, inspirierende Gefühl, auf einer Wellenlänge zu liegen. Sprachlich und vielleicht auch anderweitig. Was sich im Privaten zwischen uns ergeben haben könnte, darüber wage ich nur zu spekulieren. Gewesen ist nichts und es war wohl besser so. Aber vielleicht ist das eine Rationalisierung ex post.

Gegen Ende des Studiums nahm er mich als Kollegin in die Kabine mit. Ein Privileg, um das mich gewiss viele Studienkolleginnen beneideten. Fachkonferenzen über Fernwärme oder Tinnitus, Besuche französischer Staatsoberhäupter wie Valéry Giscard d’Estaing, engagierte Debatten über die Dritte Welt, all das nahm ich mit jugendlicher Nonchalance als Selbstverständlichkeit hin.

Auch das Thema meiner Diplomarbeit, die „Terminologie völkerrechtlicher Verträge“, hatte er mir vorgeschlagen. Das bei den Recherchen erworbene Wissen ist mir in der beruflichen Praxis vielmals zupass gekommen und vielleicht war die sprachliche Präzision, die in der Rechtssprache geschult wird, maßgeblich für meine spätere Ausrichtung. Immer wieder streute er seltsame Archaismen ein, ob rechtlicher oder anderer Natur, wie die Wendung „zu diesem Behufe“, die seither zu meinem Wortschatz gehört.

Ich hätte in Österreich bleiben, eine akademische Laufbahn einschlagen und mich freiberuflich gut etablieren können, doch es zog mich erneut in die Fremde, wo ich von vorne begann. Wir verloren uns aus den Augen, hörten nur mehr ab und zu voneinander, aber immer wieder dachte ich an ihn. Später erfuhr ich, dass das Land, das inzwischen zu meiner zweiten Heimat geworden ist, jenes Land ist, das er nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind mit seiner Mutter verlassen musste.

Als ich viele Jahre später in Wien einen Vortrag über das Dolmetschen am Europäischen Gerichtshof hielt, wo ich seit der großen Unionserweiterung arbeite, kam er, obwohl von Krankheit gezeichnet, und freute sich sichtlich über meine Bestrebungen, die trockene Rechtsmaterie durch ungewöhnliche Beispiele aufzulockern. Ich glaube, er war auch ein bisschen stolz auf seine ehemalige Studentin.

Zuletzt sahen wir uns beim Forum Alpbach, an dem er als Dolmetscher und ich als Teilnehmerin an einem Europarechtskurs zugegen war. Er freute sich, mich zu sehen und wir verabredeten uns zum Abendessen. Auf eine seltsame Weise war ich noch immer befangen. War er denn nicht noch immer der Lehrer und ich die Studentin? Da begann er, über Privates zu sprechen. Er sagte, er sei sehr glücklich und ich lauschte mit offenem Mund einer wunderschönen Liebesgeschichte. Ich hoffe, diese Liebe hat ihn bis zum Schluss begleitet.

Beim Nachtisch bot er mir das Du an. Lieber Gerhard, sollten Dich die Emotionen, die diesen Zeilen zugrundeliegen, in irgendeiner Form erreichen, so möchte ich Dir zu diesem Behufe sagen, dass ich ohne Dich wahrscheinlich nicht Dolmetscherin geworden und wohl auch nicht dorthin gelangt wäre, wo ich heute bin. Was Du mir mit auf den Weg gegeben hast, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Mehr noch: Auch mir war die Förderung des Nachwuchses immer ein Anliegen. Merci pour tout.

Gerhard Reinagel ist am 28. Mai 2020 im Alter von 79 Jahren in Wien gestorben.

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