Bahnhof Radegast

Mein Besuch in Łódź war ein Tagesausflug. Die Stadt Łódź in Zentralpolen (auszusprechen wie Woodge) ist gut an Warschau angebunden. Täglich verkehren mehrere Züge und die Fahrt ist gerade lang genug, damit sich der Reisende vom Bahnhofsstress erholen, die Zeitung lesen, einen Becher Kaffee trinken und im Blick auf die flache polnische Landschaft die Gedanken schweifen lassen kann.

Nach meiner mehrstündigen Erkundung des Stadtzentrums, die ich der Suche nach großflächiger Straßenkunst gewidmet hatte, saß ich auf einer Bank und überlegte, wie ich den Rest des Nachmittags am besten nutzen könnte. Meine Handybatterie war schon halb leer, doch ein Name auf Google Maps erregte meine Aufmerksamkeit: „Stacja Radegast“. Station Radegast, was ist das? Radegast ist ein slawischer Gott, ein tschechisches Bier und ein Ort in Sachsen-Anhalt.

Radegast in Łódź ist eine Holocaust-Gedenkstätte. Wieso hatte ich noch nicht davon gehört? Das musste ich mir ansehen.

Wie die meisten mittel- und osteuropäischen Städte hat auch Łódź ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz. An die nördliche Peripherie zu gelangen, ist für Ortsunkundige jedoch nicht ganz einfach. Es dauerte gute eineinhalb Stunden, bis ich nach einer kleinen Odyssee durch heruntergekommene Stadtviertel an die Endstation einer Buslinie gelangt war, an der mir die Navigation versicherte, dass mein Ziel zu Fuß in wenigen Minuten zu erreichen sei.

Das stimmte. Als ich ankam, war es halb fünf. Die Gedenkstätte sperrte um fünf Uhr zu, wie mir ein Angestellter beflissentlich mitteilte. Was ich in der nächsten halben Stunde sah, war beeindruckend und ergreifend.

Das Ghetto Litzmannstadt, wie die Nationalsozialisten es getauft hatten, weil ihnen der Name Łódź unaussprechlich und nicht deutsch genug erschien, ist weniger bekannt als andere Orte nationalsozialistischen Terrors. Nach Warschau war Litzmannstadt das zweitgrößte Ghetto im besetzten Europa. Mehr als ein Drittel der 665 000 Einwohner der Stadt, einem bedeutenden Zentrum der Textilindustrie, waren Juden. Sie stellten im Ghetto Kriegsgüter für die Wehrmacht her. Das war auch der Grund, warum es bis 1944 als Arbeitslager aufrechterhalten wurde.

Zusammen mit 200 000 polnischen Juden beherbergte das Ghetto Litzmannstadt 20 000 Juden aus Berlin, Wien und Luxemburg, sowie 5000 österreichische Sinti und Roma aus dem Burgenland. Für diese waren die Lebensbedingungen besonders grausam: Sie wurden vom Rest der Bewohner isoliert und mussten in Unterkünften ohne Wasser und Nahrung ausharren. Viele wurden vom Fleckfieber dahingerafft. Die überlebenden Roma wurden im Dezember 1941 und Jänner 1942 im nahegelegenen Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) vergast.

Als sich das Blatt des Krieges wendete, beschlossen die Nationalsozialisten, das Ghetto aufzulösen. Der „Verladebahnhof Ghetto-Radegast“, der bis dahin zur Versorgung mit Lebensmitteln, Treibstoff und Rohstoffen, sowie zum Abtransport der im Ghetto hergestellten Waren gedient hatte, wurde zur Verladestation in den Tod.

Am 15. Juni 1944 wurde der Beschluss über die Auflösung des Ghettos bekanntgegeben. In der ersten Phase der Deportation, zwischen dem 23. Juni und dem 15. Juli 1944, wurden über 7000 Personen nach Kulmhof gebracht; später gingen die Transporte in andere Lager, auch nach Auschwitz. Insgesamt wurden innerhalb kurzer Zeit 67 000 Zwangsarbeiter aus dem Ghetto Litzmannstadt in den Tod geschickt.

Um Widerstand oder Aufruhr zu vermeiden, beschloss die Ghettoverwaltung, die Menschen zu beruhigen. Gestapo-Kommissar Fuchs teilte ihnen mit, sie würden zur Arbeit im Reich abgestellt und dort gut versorgt werden. Wegen eines Mangels an Personenwagen müssten sie in Güterwagen reisen, dürften jedoch später in Personenzüge umsteigen. Die Güterwagen waren mit Stroh ausgelegt.

Der Abtransport verlief weitgehend reibungslos, Familien durften zusammenbleiben und ihr Handgepäck behalten. Größere Koffer wurden in einem separaten Waggon befördert. Alles wurde penibel durchnummeriert. Nur wenige ahnten vermutlich, dass diese Reise und damit ihr Leben, unweit von Łódź in Kulmhof, der ersten maschinell betriebenen Mordfabrik der Nationalsozialisten, enden würde.

1300 Personen wurden als sogenanntes Aufräumkommando im Ghetto zurückgelassen. Auch sie sollten später ermordet werden, doch die Rote Armee marschierte in Łódź ein, bevor die Deutschen dazu Gelegenheit hatten. Über die Anzahl der Überlebenden des Ghettos finden sich widersprüchliche Angaben. Manche sprechen von 100 000, andere von 5 – 7 000. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher.

Hans Biebow, ein Kaufmann aus Bremen, der für die Ghettoverwaltung verantwortlich war, wurde von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und 1947 durch den Strang hingerichtet.

Auf den Schienen im Bahnhof Radegast steht eine mächtige, dunkelgraue, bedrohlich wirkende Original-Dampflokomotive aus dem Dritten Reich, an die mehrere Original-Güterwagen gekoppelt sind. Beim Betreten dieser Güterwagen, deren Spaltenfenster mit Stacheldraht verhauen sind, erschauderte ich. Auf diesem Holzboden standen oder kauerten Menschen in den Stunden vor ihrer Vernichtung, an diese Fenster klammerten sich ihre Hände.

Vor der Lok türmen sich riesige Grabsteine mit den Namen der Bestimmungsorte auf: Stutthof, Kulmhof am Nehr, Ravensbrück, Sachsenhausen, Oranienburg, Gross-Rosen, Auschwitz-Birkenau.

Das Bahnhofsgebäude selbst ist ein kleines Museum mit historischen Karten und einigen wenigen Exponaten. Auf einer Leinwand lief ein Film über das Ghetto Litzmannstadt, den ich leider nicht mehr zu Ende sehen konnte. Wahrscheinlich war ich der letzte Besucher, als der Museumswärter pünktlich um fünf zusperrte.

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