Die Mitfahrt

Foto JamesQube, pixabay

Wer vom Westen ins Zentrum oder den Osten Europas fahren will, spürt die Nachwirkungen des Eisernen Vorhangs: Die Zugverbindungen quer durch Europa sind noch immer nicht gut. Deshalb nehme ich für solche Fahrten gern Mitfahrgelegenheiten in Anspruch. Man findet sie in Inseraten oder kann selbst welche aufgeben. Der Mitfahrer zahlt den vereinbarten Preis, der Fahrer bringt ihn an den vereinbarten Ort.

Für eine Frau meines Alters ist das nicht unbedingt üblich, ich habe nicht viele Freundinnen, die Inserate dieser Art aufgeben oder zu fremden Fahrern ins Auto steigen. „Hast du keine Angst?“ fragen sie mich. Ich habe keine Angst. Ich habe fast nur gute Erfahrungen gemacht und nette Leute kennengelernt.

Zuletzt fuhr ich mit einem Slowaken von Luxemburg nach Prag. Er hatte mich mehrmals angerufen, um mir Einzelheiten über den Treffpunkt oder sein Auto mitzuteilen.

Er war pünktlich und hatte ein schönes Auto, sprang heraus und verfrachtete mein Gepäck in den Kofferraum. Ein kleiner, gedrungener Mann mittleren Alters mit slawischen Gesichtszügen.

Nach der ersten Fahrtstunde, die ich zumeist mit einem höflichen, freundlichen Gespräch verbringe, schalte ich gern ab. Diesmal war nicht daran zu denken. Der Fahrer, ein Angehöriger der ungarischen Minderheit in der Slowakei, hörte nicht auf zu reden. Sein temperamentvolles Slowakisch überfiel mich in einem endlosen Redeschwall.

Er war Fernfahrer von Beruf, internationaler, wie er betonte, denn das war in seiner Jugend noch ein Prestigeberuf gewesen. Viele Slowaken fahren für deutsche, luxemburgische, italienische oder französische Spediteure durch ganz Europa, liefern heute Erdbeeren von Spanien nach Deutschland, morgen Whiskey von einem belgischen Flughafen nach Italien. „Sogar einen Hubschrauber habe ich transportiert!“ rief er und zeigte mir ein Foto auf Facebook.

Die Psychologie meiner Mitmenschen durch Gespräche und Beobachtung zu erkunden war lange eine Lieblingsbeschäftigung von mir. Was ich jetzt sage, klingt vielleicht dünkelhaft, aber als Akademikerin, die tolerant sein will und immer wieder mit Angehörigen anderer Bevölkerungsschichten, früher hätte man gesagt: der Arbeiterklasse, zu tun hat, verspüre ich die moralische Verpflichtung, diesen Mensch Raum zu geben, damit sie nicht in Verlegenheit kommen. Mit fortschreitendem Alter bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob ich das noch jedes Mal tun will. Mir fehlt die Energie.

Wir durchquerten Deutschland, fuhren an Weingärten, Fabriken, Einkaufszentren und Baustellen vorbei. Sein Redefluss riss nicht ab, er sprang von einem Thema zum anderen und alles verschmolz zu einem ermüdenden, einschläfernden Konglomerat.

Plötzlich ereiferte er sich. „Mit der heutigen Zeit bin ich nicht einverstanden!“ „Wie meinen Sie das?“ fragte ich matt. „Diese Homosexuellen, die sind doch krank. Und dieses ganze Ökogeschwafel, die Elektroautos, ein Wahnsinn!“ Zwischendurch fluchte er auf Ungarisch.

Ich war wieder wach. Sollte ich mich auf eine Kontroverse einlassen? Das tue ich nicht jedes Mal, wenn ich anderer Meinung bin. Wozu sich streiten? Die extreme Polarisierung der Meinungen in den letzten Jahren hat Verwerfungen und Feindseligkeit verursacht und oft habe ich darauf keine Lust mehr. Diesmal ließ ich mich auf die Debatte ein, denn was er sagte, wollte ich nicht einfach so stehen lassen. Meine Opposition überraschte ihn, er machte einen Rückzieher und wechselte das Thema.

Nun ging es um die Mafia in seinem Heimatort in der Südslowakei. Die dortigen Verhältnisse stehen Italien um nichts nach. Mittlerweile hatten wir die tschechische Grenze passiert. Ich war wieder verstummt.

Slowakisch zu verstehen ist schließlich auch Teil meiner Arbeit. Manchmal hörte ich zu, dann wieder schweiften meine Gedanken ab. Wir waren schon sieben Stunden unterwegs und er hatte praktisch ununterbrochen geredet. Mein Kopf brummte.

Kurz vor Prag meinte er, er würde mich nun nach Hause bringen. Das ist nicht immer so, die meisten Fahrer setzen mich an einer U-Bahn-Station ab. Als ich zahlen wollte, winkte er ab. „Sie zahlen nichts! Ich habe Sie mitgenommen, weil ich nicht allein sein wollte. Wissen Sie, ich habe keine Familie. Meine Freundinnen haben mich verlassen, weil ich so oft weg bin. Im LKW bin ich immer allein. Auf dieser Fahrt war ich nicht allein. Ich weiß, dass ich viel rede. Danke, dass Sie mir so lange geduldig zugehört haben.“

Ich war plötzlich gerührt. Es war also keine Selbstverständlichkeit gewesen, dass ich ihm zugehört hatte. Wir umarmten uns und ich wünschte ihm eine gute Weiterfahrt.

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