Das Zinnbergwerk

Ich bin verloren gegangen, sagte Schmitke im Film zum tschechischen Geologen Kryšpin, die Wege hier scheinen mir auf eine merkwürdige Art alle gleich zu sein. Das liegt daran, dass sie alle gleich sind, antwortete Kryšpin.

Schmitkes Navigationsgerät schien nicht zu funktionieren. Rolava, ehemals Sauersack, war ein Ort auf der Karte, der in Wirklichkeit nicht existierte. Navigation müssen Sie hier haben, erwiderte Kryšpin und tippte sich an den Kopf, ich werde Ihnen etwas zeigen.

Sie streiften durch dichtes Gehölz, bis Schmitke plötzlich am Rand eines Abgrunds stand und erschrak. Tief unter ihm glänzte in zwei Schächten pechschwarzes Wasser. Eine Breite vom Haar, grinste sein Begleiter. Was wollen Sie, fragte Schmitke irritiert. Was denken Sie, gab Kryšpin zurück und dozierte weiter in gelehrtem, leicht fehlerhaftem Deutsch. Die Erde, auf der wir stehen, ist nicht so stabil, wie sie scheint. Man muss achtsam sein, wenn man geht immer tiefer in seine Natur. Da unten ist Dunkelheit, Herr Ingenieur, und die kann gefährlich sein. Vor allem, wenn sie uns Angst macht und uns ablenkt, zum Beispiel von unserem selbst gewählten Weg.

Kryšpin spielte mit Schmitkes Angst und erging sich in befremdlichen Zweideutigkeiten. Doch seine Anspielungen hatten einen wahren Kern: Die beiden befanden sich an einem Ort, der das Gedächtnis einer bewegten Geschichte birgt.

Im Jahr 1930 zählte die Gemeinde Sauersack 157 Häuser und 1016 Einwohner; 1950 waren es 152 Häuser mit 16 Einwohnern, 1960 Null Häuser mit Null Einwohnern. Nach dem Krieg wurde die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben und das nach dem nahegelegenen Fluss in Rolava umbenannte Sauersack, das jahrhundertelang vom Bergbau, der Torfgewinnung, vom Klöppeln und der Herstellung von Perlmuttknöpfen gelebt hatte, wurde dem Grenzgebiet einverleibt und verschwand vom Erdboden.

In Sauersack war vor allem Zinn abgebaut worden, das für die Herstellung von Kriegsmaterial große Bedeutung hatte. In der Zwischenkriegszeit hatte man sich auf ergiebigere Vorkommen im Ausland gestützt, doch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Zinnvorräte der Wehrmacht erschöpft und man entsann sich der Mine im Erzgebirge. 1940 begann die Berliner Gesellschaft Zinnbergbau Sudetenland mit dem Untertagebau und errichtete zugleich ein Arbeitslager für Kriegsgefangene. Später traten eine Erzverarbeitungsanlage und Lagerhallen hinzu.

Im Zinnbergwerk arbeiteten in erster Linie französische und russische Gefangene, aber auch Polen, Ukrainer, Griechen und Italiener. Bald wurden zusätzliche Arbeitskräfte benötigt, die man aus dem Deutschen Reich holte. Auch tschechische Handwerker und Grubenarbeiter wurden eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen im Untertagebau waren zweifellos unmenschlich, doch historischen Angaben zufolge war das Lagerleben besser als in anderen Arbeitslagern. Mitunter wurde den Gefangenen sogar ein Kinobesuch im benachbarten Frühbuß (Přebuz) erlaubt, mit Ausnahme der Russen, denen in Hitlerdeutschland von allen Kriegsgefangenen die schlechteste Behandlung zuteil wurde. Zwei Russen kamen im Bergwerk um, drei wurden auf der Flucht erschossen.

Das Erz wurde in zwei Schächten aus einer Tiefe von bis zu 180 Metern gefördert. Beide Schächte waren miteinander verbunden und bildeten ein unterirdisches System von Gruben und Gängen mit einer Länge von vierzehn Kilometern. Ein dritter Schacht war geplant, wurde jedoch nie gebaut. Zinn kam nicht als Reinmetall vor, sondern wurde als Endprodukt der Erzverarbeitung in Form eines Konzentrats gewonnen. Über Tag umfasste der ausgedehnte Bergwerkskomplex vierzig Gebäude, insbesondere einen fünfstöckigen Verarbeitungsbetrieb mit Beschickungsanlagen, in denen noch unverarbeitetes Erz liegt, ein Absetzbecken, unter- und überirdische Lagerhallen, Wohn- und Bürogebäude einschliesslich einer Waschküche, Entlausungsstation, Latrine und mehrerer Wachtürme. Von den hölzernen Wohngebäuden sind heute nur mehr Betonfundamente erhalten.

Als die Front näherrückte, zogen die Deutschen ab und 1945 kam die Bergbautätigeit zum Erliegen. Ein Dutzend Arbeiter blieb, um die Anlagen instand zu halten, doch die Fortführung des Bergwerks scheiterte und 1947 wurde es eingestellt. Verwendbare Maschinen und Anlagen wurden abmontiert und die Schächte geflutet. Über den Rest herrscht seither die Natur.

Das ehemalige Zinnbergwerk Sauersack ist ein faszinierender, unheimlicher, nicht ungefährlicher Ort. Im sumpfigen Unterholz lauern offene Schachthälse, Senken und rostige Haken, in den Ruinen verfallen spröde Mauern und brüchige Stahlbetonbalken, in den düsteren Kellermündungen steht trübes Wasser. Durch rissige Wände wachsen Bäume, moosbewachsene Steintreppen führen ins Nichts. Die bedrohlich, nahezu apokalyptisch anmutenden Überreste des Bergwerks sind mit der Natur eine überwältigende, schaurig-schöne Symbiose eingegangen.

Ich steige über Schutt und Gezweig, die Erde gibt nach. Mein Fuß sucht Halt auf morastigem Grund und verliert ihn. Kryšpin hatte Recht: Diese Erde ist nicht stabil, ihre Kruste ist dünn und gibt nach, als möchte sie auch mich hineinziehen in ihr dunkles Geheimnis.

 

Hierher hatte Kryšpin Schmitke geführt, bevor er plötzlich verschwand und ihn allein im Bergwerk zurückließ. Schmitke irrte durch die Ruinen und vermeinte, im Gebüsch Augen zu sehen. Die Kamera folgte ihm aus dem Blickwinkel dieses versteckten Beobachters. Doch vielleicht hatte er nur geträumt. Als er in der nächsten Nacht zurückkehrte, wartete im Mondschatten, an einen Baumstamm gelehnt, eine Gestalt auf ihn. Es war der Bärenmann. Schmitke trat näher und blickte ihm ins Gesicht. Er war es selbst, er selbst war der Bärenmann, der ihm Angst machte, ihn abstieß und gleichzeitig anzog, den er scheute und doch finden wollte, der es gewagt hatte, mit den Geistern im Wald zu leben, fernab von den Menschen. Was wir scheuen und fürchten, ersehnen und wünschen, tragen wir in uns. Bald nach dieser verstörenden Begegnung mit dem eigenen Ich am sinistren Ort des ehemaligen Zinnbergwerks endete Schmitkes Reise. Wir wissen nicht, ob er nach Deutschland zurückgekehrt oder im Erzgebirge geblieben ist. Fest steht nur eines: Er ist ein anderer geworden.

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