Die Coronapandemie, und mit ihr die Reisebeschränkungen, dauert an. Abkömmliche, also nicht „systemrelevante“ (auch das eine pandemische Neuschöpfung) Auslandsreisen sind verboten oder zumindest unerwünscht. Ausflüge ins Landesinnere sind jedoch erlaubt. Auch dort gibt es noch einiges zu entdecken.
Einer dieser Ausflüge führte uns in die Mondtalkolonie, eine romantische Hüttensiedlung am Konopišter Bach, ca. 30 km südwestlich von Prag.
Von der tschechischen Vorliebe für das Sommer- und Wochenendleben auf dem Land wusste ich natürlich, sie fiel mir gleich nach meiner Ankunft in Prag auf, als ich an einem meiner ersten Wochenenden von einer lieben Arbeitskollegin in ihre “chata”, ihre „Hütte“ eingeladen wurde. Ihre Hütte? In Russland oder der ehemaligen DDR hätte man natürlich „Datscha“ gesagt. Der tschechische Begriff „chata“ ist nicht einfach zu übersetzen. Wörtlich bedeutet er „Hütte“, doch in Wirklichkeit geht es, wie so oft, um viel mehr. Ein Kulturgut, eine Weltanschauung, eine Lebensform.
Der deutsche Wortschatz bietet durchaus Möglichkeiten: „Ferienhütte“, „Blockhütte“, „Chalet“, „Landhaus“, „Wochenendhaus“, „Ferienhaus“, „Sommerhaus“, „Gartenhaus“, „Laube“, „Strandhaus“, ja sogar „Erholungsbungalow“, wie auf der Webseite einer Immobilienagentur zu lesen ist. Keiner dieser Ausdrücke umfasst, für sich genommen, all das, was eine tschechische Chata ausmacht. Sie ist in der Regel klein, meist aus Holz, Marke Eigenbau, gern mit Spitzgiebel, und erinnert an die Lebkuchenhäuschen der Grimmschen Märchen.
Doch um das Aussehen geht es nicht. Es geht um die Lebensform, die gesellschaftliche und emotionale Bedeutung der Chata für die tschechische Volksseele. Im Zentrum der Hüttenkolonie des Mondtals wurde unter einen Tierschädel eine hölzerne Tafel mit folgendem Inhalt an einen Baum genagelt: „Die Kolonie des Mondtals wurde 1924 im typischen Westernstil als erste Kolonie dieser Gegend und eine der ersten in der Tschechischen Republik gegründet. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre sportliche und kulturelle Tradition. Was auch immer die Zeiten mit sich brachten, stets war sie eine ideale Zuflucht in der schönen Natur. Ein kleiner Staat im Staate, ohne Politik und weltliche Probleme. Hier herrschten der Große Manitou, ein kameradschaftlicher Geist und die einfachen Gesetze des Wilden Westens. Auch wenn es nicht mehr viele ursprüngliche Siedler gibt, so lebt die Tradition in den Herzen der jungen Generation und aller Kameraden doch weiter. Setz dich, trink, spiel und sing mit uns, aber zerstöre nichts und hinterlass keinen Abfall. Nur dann wirst du unser Freund.“
Diese einfache Botschaft enthält typische Elemente: das Gründungsjahr kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die Natursehnsucht und eine naive Wildwestromantik „ohne Politik und weltliche Probleme“.
Die verbreitete Vorliebe für das romantische Wochenendleben im Wald ist auf die sog. Tramp-Bewegung der Zwischenkriegszeit zurückzuführen. Auch der tschechische „Tramp“ hat im Deutschen keine einfache Entsprechung; das englische Wort „tramp“ („Landstreicher“, „Vagabund“, „Penner“, „Flittchen“) ist hier kaum behilflich, denn es ist negativ besetzt. Der tschechische Tramp hat eine Bedeutungsverschiebung erfahren, er ist eine grundsätzlich positive Figur, ein Wanderer, der sich am Freitagnachmittag mit Rucksack und Gitarre in die Natur aufmacht und am Sonntagabend (oder später) zurückkehrt.
In wohl keinem anderen Land der Welt hatte Karl May mit seinen Winnetou-Romanen soviel Erfolg wie hier. Seine Abenteuergeschichten und Heldenfiguren begeisterten Generationen von Tschechen. Eine weitere Inspiration war die tschechische Pfadfinderbewegung, die bis heute sehr aktiv ist. Unweit der Städte, meist an Orten, die mit dem Zug gut zu erreichen sind, entstanden die ersten Hüttenkolonien.
Jeder konnte ein Tramp, ein „wilder Pfadfinder“ werden. Manche waren links orientierte Intellektuelle aus der Mittelschicht, andere Studenten oder Vertreter der Arbeiterjugend. Für viele bedeuteten diese Ausflüge Freiheit und eine Art Rebellion. Man spielte Volleyball, versammelte sich am Lagerfeuer und sang zur Gitarrenbegleitung Lieder, die teils Volksliedcharakter erworben haben.
Neben der Chata gibt es einen zweiten, größeren Landhaustyp, die „Chalupa“, ein gemauertes, ehemals ständig bewohntes Bauernhaus. Nach der Vertreibung der Sudetendeutschen (drei Millionen Menschen) standen nach dem Zweiten Weltkrieg viele Häuser im Grenzgebiet leer. Die Neubesiedlung des Sudetenlands ging nicht so recht vonstatten und manche Objekte wurden schließlich zu Zweitwohnsitzen der tschechischen Stadtbevölkerung.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatten immer mehr Menschen ein Auto und konnten somit rasch an Orte gelangen, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zu erreichen waren. In der Zeit der Normalisierung, also den Siebzigerjahren, waren Urlaubsreisen ins Ausland für viele kaum möglich. Die Wochenenden und Ferien verbrachte man in der Chata oder Chalupa, wo man im Garten sitzen und grillen, sein eigenes Gemüse ziehen und freier als in einer städtischen Plattenbauwohnung kommunizieren und sich über das Regime beschweren konnte. Eine Chata hatten die meisten; sie war keineswegs ein Privileg der Begüterten oder der Oberschicht.
Das Landhäuschen bleibt meist im Familienbesitz und wird weitervererbt, zur Nutzung durch Kinder und Enkelkinder. Nach der Wende wurden aus den Gemüsebeeten nicht selten Ziergärten oder englischer Rasen. Frisches Gemüse, früher Mangelware, konnte man nun im Supermarkt kaufen. Seit die Biowelle auch in Tschechien Einzug gehalten hat und wegen der hohen Prager Immobilienpreise immer mehr junge Menschen aufs Land ziehen, wird auch wieder eigenes Gemüse angebaut.
Gut möglich, dass auch die Coronakrise dem Landleben in der Chata oder Chalupa zu einer neuen Blüte verhilft.
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