Ein Rosenkranz aus Betlehem

Im Dezember des vergangenen Jahres besuchte ich in Prag eine Solidaritätsveranstaltung für die Menschen in Gaza. Die meisten meiner tschechischen Freunde und Bekannten wären nicht hingegangen, sie halten so etwas für Unterstützung der Hamas.

Das war es nicht, das schreckliche Massaker vom 7. Oktober wurde von niemandem verteidigt und kann von niemandem, der bei Sinnen ist, verteidigt werden. Es ging um die humanitäre Katastrophe von Millionen Menschen in Gaza, für die nicht – oder nicht nur,  wie man in Tschechien in den allermeisten Fällen zu hören bekommt, allein die Hamas verantwortlich ist. Im Rahmen seines Feldzugs gegen die Terrororganisation übt Israel in Gaza Vergeltung. Von vielen wird das leider nicht gesehen oder bewusst ignoriert und auf die Erwähnung dieser Tatsache reagiert man aggressiv.

Bei der Veranstaltung gab es palästinensische Musik und palästinensisches Essen, das von Exilanten gekocht wurde. Im Obergeschoß sah ich einen kleinen Rosenkranz, der aus dem Holz eines Olivenbaums in Betlehem im Westjordanland gemacht war. Er rührte mich und ich kaufte ihn.

Ich habe ihn meiner Freundin Gabi geschenkt, mit der ich oft über die Geschehnisse im Nahen Osten spreche, sie hat einen sehr persönlichen Bezug dazu. Ich habe nicht viele tschechische Freunde, mit denen ich über diese Dinge reden kann, ohne mit meiner Haltung eisige Ablehnung zu ernten oder in einen erbitterten Streit zu geraten. Die tschechische Regierung und die tschechische Öffentlichkeit unterstützen die israelische Politik vorbehaltlos und Kritik am Vorgehen Israels wird als Unterstützung der Hamas oder rundweg als Antisemitismus bezeichnet. „Mensch in Not“, die bekannteste tschechische Menschenrechtsorganisation, hat bisher mit keinem Wort das Leid der Menschen in Gaza erwähnt. Ehrlich gesagt, habe ich nie verstanden, warum sich die Tschechische Republik derart mit Israel identifiziert, denn eine Identifizierung ist hier zweifellos gegeben. Welche vermeintlichen geschichtlichen Parallelen liegen ihr zugrunde? Ich weiß es nicht.

Letzte Woche rief eine Online-Petition zu einer Wertekorrektur der tschechischen Außenpolitik und zur Unterstützung der Aufforderung des Internationalen Strafgerichtshofs auf, sofort ausreichende humanitäre Hilfe für die Opfer des Konflikts zur Verfügung zu stellen. Nach monatelangem Schweigen hatten sich endlich auch hier einige wenige öffentliche Persönlichkeiten zu Wort gemeldet. Ich habe die Petition unterzeichnet, Gewalt an Zivilisten lässt sich durch nichts rechtfertigen. Zehntausende Tote, vor allem Zivilisten, Frauen und Kinder, die massive Zerstörung des Gazastreifens, der praktisch unbewohnbar geworden ist, und über eine Million Vertriebene können nicht einfach als Collateral Damage abgetan werden.

Prompt wurden die Signatare, darunter Tomáš Halík, ein aufgeschlossener katholischer Geistlicher und Intellektueller, in den sozialen Netzwerken als Antisemiten oder „Desolate“ bezeichnet. „Desolate“ sind in Tschechien Unterstützer des russischen Präsidenten Putin und Gegner einer liberalen, westlich orientierten Demokratie. Im Ukrainekrieg steht die tschechische Regierung auf der Seite des Völkerrechts, also auf der Seite des angegriffenen Landes. Eine Haltung, die ich begrüße. Tschechien hat im europäischen Pro-Kopf-Vergleich die meisten Ukraineflüchtlinge aufgenommen. Der Nahostkonflikt lässt sich weder historisch noch aktuell mit dem Ukrainekrieg vergleichen, doch das plötzliche Abweichen von humanitärem Völkerrecht ist trotz dieser Unterschiede durch nichts zu rechtfertigen. Ziel kann nur eine gerechte Beilegung der jahrzehntelangen Streitigkeiten zwischen Israel und den Palästinensern sein, nicht das Niederbrennen des Gazastreifens und das Säen von neuem, generationenlangem Hass.

Manchmal bin ich zornig oder verzweifelt und liege nachts mit quälenden Gedanken wach. Bin ich naiv, wie mir oft vorgeworfen wird, sehe ich die Dinge richtig oder liege ich falsch? Vielleicht sehe ich sie zu einseitig, vielleicht sehe ich vieles gar nicht.

Als ich klein war und den Sommer bei meiner Großmutter verbrachte, nahm sie mich Abend für Abend zum Rosenkranzbeten in die Dorfkapelle mit. Eine überaus langweilige Veranstaltung für ein Kind, die Bauern beteten in endlosen, monotonen Litaneien die Namen der Heiligen vor sich her, während ich die Figuren der Heiligen studierte oder mit Augenblinzeln die Altarkerzen zu manipulieren versuchte.

Was hätte meine Großmutter, eine herzensgute, fromme Frau, zu all dem gesagt, für wen hätte sie Partei ergriffen? Ist es nicht Christenpflicht, stets für die Menschlichkeit Partei zu ergreifen, gleichgültig, von welcher Seite die Gewalt kommt?

Sie hatte einen Rosenkranz, der sicher nicht aus Betlehem stammte, und betete oft mit ihm. Manchmal denke ich an den Rosenkranz, den ich bei jener Veranstaltung gekauft habe, und würde ihn gern in die Hand nehmen. Das Gefühl gab mir ein klein wenig Trost. Aber ich weiß, dass er bei Gabi in guten Händen ist.

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