Ich war nicht dort

„Ein Film über das, was letztlich zählt – die Menschlichkeit“, schrieb ich an meine Freunde, als mein Sohn und ich aus einem Prager Kino kamen. Wir gingen noch eine Weile durch die Innenstadt und tauschten unsere Eindrücke aus. Er war so berührt wie ich, wenn nicht mehr.

Auf den Film „Die grüne Grenze“ („Granica“) der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland hatte ich wochenlang gewartet. In den polnischen Kinos war er im September angelaufen, einen Monat vor den diesjährigen Parlamentswahlen. Kein Wunder, dass er zum Politikum wurde. Agnieszka Holland hat bei den Nationalkonservativen keine gute Presse. „Sie hat eine Agenda“, bemerkte eine meiner Polnischlehrerinnen spitz, „und die ist polenfeindlich“.

„Nazi-Propaganda“, fauchten Vertreter der Regierungspartei PiS über den Film, obwohl sie ihn noch nicht gesehen hatten. „Nur Schweine sitzen im Kino“, entfuhr es sogar dem Präsidenten, in Anlehnung an die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung, als ein Teil der Erlöse polnischer Kinos der Wehrmacht zugutekam.

Wenn es schweinisch ist, sich diesen Film anzusehen, dann bin ich gern ein Schwein. Was sich an der polnisch-belarussischen Grenze abspielt, ist bekannt, nur ist es inmitten der dramatischen Entwicklungen der letzten Zeit von der medialen Bildfläche verschwunden. Dieser Film bringt es in unser Bewusstsein zurück.

Der belarussische Präsident Lukaschenko karrt Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Minsk und verfrachtet sie an die polnische Grenze. Putin und Lukaschenko wollen Europa durch den Zustrom weiterer Migranten destabilisieren. Doch Polen schickt sie wieder zurück nach Belarus, Pushback nennt man das. Die rechtskonservative polnische Regierung errichtet eine Mauer und eine Sperrzone, zu der niemand außer den Grenzschützern Zugang hat. Im sumpfigen Bialoweser Wald irren die Menschen bei niedrigen Temperaturen hilflos umher. Sechsundvierzig sind bereits ums Leben gekommen.

Agnieszka Holland sammelte dokumentarisches Material, unter anderem bei polnischen freiwilligen Helfern der „Grupa Granica“, („Grenzgruppe“), und drehte einen Film, der den Menschen ein Gesicht gibt. Nicht nur den Flüchtlingen, auch den Grenzschützern und den freiwilligen Helfern, den „Aktivisten“.

Da ist eine syrische Familie mit zwei Kindern und einem Großvater. Mehrmals werden sie brutal hin- und hergeschoben und von den belarussischen Häschern geschlagen. Zusammen mit der afghanischen Lehrerin Leila entkommt der Sohn und die beiden irren tagelang ohne Nahrung und bei eisiger Kälte durch den Wald. Schließlich geraten sie in ein Moor, wo das Kind, bereits bewusstlos, vom schwarzen Schlamm aufgesogen wird. Leila wird von Julia, einer polnischen Psychologin, die in der Nähe wohnt und ihre Hilferufe gehört hat, gerettet. Nachdem die völlig entkräftete und unterkühlte Afghanin im Krankenhaus versorgt wurde, holt die Polizei sie ab und zerrt sie wieder an die Grenze. Ihre Rufe „Asylum in Poland!“ fruchten nichts. Sie wird nicht mehr gesehen.

Julia ist empört und beginnt, mit den freiwilligen Helfern zusammenzuarbeiten, die die Geflüchteten ärztlich versorgen, ihnen Tee und trockene Kleidung bringen. In der Sperrzone wird sie von der Grenzpolizei verhaftet.

Da ist Jan, ein junger polnischer Grenzschützer. Seine Freundin ist schwanger und sie wollen bald in das Haus einziehen, das er gerade instand setzt. Er erfüllt die Weisungen seiner Vorgesetzten, greift Migranten auf und bringt sie in Lastwagen zurück an die Grenze. Doch nach und nach überkommen ihn Zweifel. Er erlebt, wie eine schwangere Migrantin nach einem brutalen Einsatz der Grenzpolizei ihr Kind verliert. Mit einem Kollegen wirft er eine Leiche über den Grenzzaun nach Belarus, dann gibt es auf polnischer Seite keine Probleme damit. Er wird immer gereizter und entspannt sich mit Alkohol.

Bei einer Straßenkontrolle trifft er eines Tages auf einen Lieferwagen, in dem ein tschechischer Helfer die syrische Familie in Sicherheit bringt. Jan schiebt die Kartons im Laderaum zur Seite und blickt in dunkle Augen. Nach kurzem Zögern schiebt er die Kartons wieder an ihren Platz, schließt die Tür und lässt den Wagen weiterfahren. Schließlich kann er nicht mehr und zieht seine Uniform aus, eine Schlüsselszene des Films.

Wenige Monate später sehen wir ihn an der polnisch-ukrainischen Grenze. Millionen fliehen vor Putins Invasion nach Polen, das sie großzügig aufnimmt. Jan trägt ein Baby zum Autobus, da hält ihn eine junge Freiwillige der Grenzgruppe an und fragt: „Hier hilfst du, dort hast du nicht geholfen. Warum?“ „Ich war nicht dort“, sagt er und wendet sich ab.

Filmplakat im Prager Kino. “Hranice” heißt der Film auf Tschechisch, “Grenze”.

Man hat der Regisseurin Einseitigkeit und Aktivismus vorgeworfen. An der polnisch-belarussischen Grenze irren noch immer verzweifelte Menschen durch den Wald, es hat sich kaum etwas an der Situation geändert. Nicht alle werden in Europa bleiben können, aber alle verdienen es, dass ihnen geholfen wird. Das nennt man Menschlichkeit.

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