Am 24. Februar 2022 bin ich in Luxemburg und mit einer Freundin zu einer Iran-Ausstellung verabredet. Am Nachmittag erwartet mich ein beruflicher Termin, doch alles in allem soll es ein ruhiger Tag werden.
Blick vom Pechersk-Kloster in Kiew, August 2021
Der morgendliche Blick aufs Handy macht mich stutzig. Mein Sohn schreibt auf Twitter: „Das ist der schlimmste Morgen meines bisherigen Lebens.“ Putin hat die Ukraine angegriffen. Ich schalte das polnische Radio ein, das ich morgens gern höre. Es herrscht Aufruhr, die Meldungen überschlagen sich.
Zur Iran-Ausstellung komme ich zu spät und in zittrigem Zustand. In der Arbeit habe ich Probleme, mich zu konzentrieren und nicht ständig die Nachrichten zu scrollen. Er hat tatsächlich getan, womit niemand gerechnet hatte.
Drei Tage später, zurück in Prag, stehe ich auf dem Wenzelsplatz. Sechzigtausend Menschen demonstrieren gegen den Krieg und für Solidarität mit der Ukraine. Eine Welle der Empathie geht durch die tschechische Gesellschaft, Hilfsorganisationen sind vor Ort, professionelle Hilfe wird an die Grenzen geschickt, Aufnahmezentren für Flüchtlinge werden eingerichtet. Natürlich hat diese Empathie mit Reminiszenzen an Invasionen des eigenen Lands zu tun. Man kann den Tschechen oder Polen vorwerfen, den Opfern von Kriegen in anderen Kulturkreisen wenig geholfen zu haben, doch in dieser Krise sind sie vorbildlich solidarisch.
Auch im westlichen Europa gibt es große Friedensdemonstrationen. Doch gleichzeitig herrscht, so mein Eindruck, Verlegenheit. Viele wissen nicht so recht, wie sie zu diesem Krieg stehen sollen. Die Ukraine ist weit weg, man weiß nicht viel über sie. Eine Freundin schickt mir ein Interview mit einem französischen Historiker, der Russlands „legitime Interessen“ verteidigt. In den sozialen Netzwerken posten manche „Peace“ und meinen damit, die Ukraine solle sich ergeben. Der Terror des Aggressors soll ihr Frieden bringen? Andere plädieren für Neutralität. Hätten sie das auch bei Hitlers Angriffskriegen getan? Ich kann das einfach nicht verstehen.
Bin ich militant geworden? Vielleicht ist es mein von den Schreckensmeldungen überreiztes Gehirn, das Sturm läuft. Es ist Krieg in Europa und ich kann doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber ständig die Nachrichten zu checken kann einen fast verrückt machen. Manchmal hilft es, das nicht zu tun.
Mittlerweile ist Tanja zurück. Tanja ist unsere ukrainische Putzfrau, die einmal pro Woche kommt und wieselflink Ordnung schafft. Was für ein Segen! Unser Verhältnis ist herzlich und wenn ich da bin, unterhalten wir uns beim Morgenkaffee auf tschecho-ukrainisch. Im Dezember ist sie nach Hause gefahren, um ihr Visum zu erneuern. Dann kommt der Krieg und ich bin in großer Sorge um sie. Sie schickt mir Videos aus ihrer Stadt, auf denen Raketeneinschläge zu hören und zu sehen sind. Ich beschwöre sie, so bald wie möglich zurückzukommen.
Am Sonntag schreibt sie endlich, sie stehe an der polnischen Grenze. Ich bin erleichtert. Am Dienstag will sie, wie immer, zum Putzen kommen. Kommt nicht in Frage, sage ich, du kommst als Gast! Sie bringt ein Madonnenbild mit, das sie mit Plastikperlen ausgestickt hat. Für mich. Wir weinen. Nachts kann sie kaum schlafen. Sie erzählt von der Angst um die Männer der Familie, die ihre Heimat verteidigen. Vom Hass auf den Aggressor. Dann muss ich los, ich habe einen Termin. Als ich zurückkomme, ist sie weg. Auf der Fremdenpolizei, um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen, die sich in Prag nicht auskennen. Wiederholt lade ich sie und ihren Mann, der schon länger in Tschechien lebt, zum Abendessen ein. Ich glaube, sie sind einfach zu scheu, um die Einladung anzunehmen.
Der Krieg tobt weiter, Städte werden in Schutt und Asche gelegt, Bilder wie aus dem Zweiten Weltkrieg erreichen uns. Wir dachten, dazu könne es in Europa nicht mehr kommen. Wie naiv wir doch waren. Mariupol steht vor einer humanitären Katastrophe; die Evakuierung der Zivilbevölkerung wird durch ständige Angriffe unmöglich gemacht. Die russischen Einheiten rücken gegen Kiew vor, doch der Vormarsch gerät immer wieder ins Stocken. Gott sei Dank. Putins moralische Niederlage war von Anfang an klar, aber ich wünsche ihm auch eine militärische Niederlage. Der Aggressor darf sich nicht durchsetzen. Mutige Russinnen und Russen demonstrieren zu Hause gegen den Krieg. Putin nimmt auch der eigenen Bevölkerung die Zukunft.
Ich muss mehr tun als dies alles mitzuverfolgen, mich aufzuregen, Geld zu spenden, Lebensmittel in die Einkaufswagen zu legen, die an der Supermarktkasse für die Ukraine bereitstehen. Sie sind rasch voll. Ich muss mich ganz konkret nützlich machen. Hunderttausende sind nach Tschechien geflüchtet und es werden immer mehr. Morgen früh beginnt mein erster Einsatz als freiwillige Helferin im Prager Kongresszentrum, das zu einem Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge umfunktioniert wurde. Mein rudimentäres Ukrainisch möchte ich heute noch etwas aufbessern.
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Zweimal war ich mit meinen Söhnen in der Ukraine, das erste Mal im westukrainischen Lemberg (Lwów/Lvov/Lviv) im Juni 2014, das zweite Mal in Kiew und Tschernobyl im August 2021.
Bilder aus Lemberg
Bilder aus Kiew