Während meines Aufenthalts in Warschau lernte ich Marina kennen. Marina studiert Dolmetschen an der Universität Warschau und sagte, dass sie aus Kasachstan stammt. Ich wollte mehr erfahren. Das hat sie mir erzählt.
“Ich wurde in Kasachstan in einer multiethnischen Familie geboren. Meine Mutter ist Polin, mein Vater hat ukrainisch-belarussisch-polnische Wurzeln. In Kasachstan leben Menschen mit über 130 Volkszugehörigkeiten. Einer der Gründe für die große Anzahl von Nationalitäten und die Vielsprachigkeit in Kasachstan ist die Tatsache, dass die kommunistischen Behörden der Sowjetunion die Menschen in Massen in Arbeitslager schickten. Die meisten kehrten nach diesen Massendeportationen nicht mehr in ihre Heimat zurück. Die Polen leben hauptsächlich im nördlichen Teil des Landes. Über die Anzahl der Polen, die heute noch in Kasachstan leben, konnte ich keine genauen Angaben finden. Die unterschiedlichen Zahlen sind u. a. darauf zurückzuführen, dass Familien in Kasachstan oft multiethnisch sind, sodass jemand polnische Wurzeln haben kann, ohne es zu wissen, oder sie einfach als weniger wichtig erachtet. In den offiziellen Volkszählungen wird die Zahl 30.000 genannt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen viele Menschen das unabhängige Kasachstan, darunter Deutsche im Rahmen von Repatriierungsprogrammen, aber auch Polen. Ein Teil der Bevölkerung wanderte aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage in den 1990er Jahren nach Russland aus. Bis heute gehen junge Menschen zum Studium nach Russland und bleiben dort.
Die polnische Gemeinschaft in Kasachstan floriert. Die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit läuft gut und junge Menschen mit polnischen Wurzeln haben die Möglichkeit, zum Studium nach Polen zu kommen. Allerdings gehen auch viele junge Menschen zum Studieren nach China und in die Türkei, es gibt also immer mehr Möglichkeiten. In den letzten zehn Jahren verzeichnete Kasachstan einen Bevölkerungszuwachs von 6,9 %; gleichzeitig ging der Anteil europäischer Nationalitäten um fast 20 % zurück, während die Zahl der Kasachen um 26 % stieg.
Die Familie meiner Großmutter mütterlicherseits wurde 1936 deportiert. Zwischen 1920 und 1956 wurden in der UdSSR etwa 130 Deportationsaktionen durchgeführt, die zur Vertreibung von mehr als 12 Millionen Menschen führten. Ein Teil der Familie wurde nach dem Krieg deportiert, aber wir haben keinerlei Informationen über sie. Ziel der Deportationsaktionen war es, “unzuverlässige Elemente” aus den Grenzgebieten der westlichen Sowjetukraine nach Kasachstan umzusiedeln. Es hieß, die in diesen Gebieten lebenden Polen stünden in Kontakt mit ihren Familien aus Polen, weshalb sie oft für Spione gehalten wurden. Ich weiß wenig über diese Ereignisse, zu Hause wurde nicht darüber gesprochen. In Kasachstan lebten wir im Norden des Landes, wohin die Transporte mit den Vertriebenen gingen. In meiner Klasse, in der Russisch unterrichtet wurde, saßen drei Polen, aber auch Ukrainer, Deutsche, Tataren und Inguschen. Mindestens die Hälfte meines Dorfes waren keine ethnischen Kasachen, aber als Kind habe ich mich nicht gefragt, wie wir alle hierher gekommen waren. Als Kind habe ich diese “Vielfalt” nicht gespürt. Kasachstan ist ein multiethnischer Staat und bis heute gibt es keine ethnischen Konflikte. Ich hoffe, das bleibt so.
Unterschiede gab es nur bei den religiösen Festen. Für mich war es selbstverständlich, zwei Heiligabende zu feiern: den 24.12. mit meiner polnischen Großmutter, und den 6.01. mit meiner ukrainischen/weißrussischen Großmutter. Dann feierten wir das kasachische Neujahr, das auf den 22. März fällt, ein typischer Feiertag in vielen muslimischen Ländern. Wenn die Orthodoxen feierten, luden sie ihre muslimischen und nicht gläubigen Freunde und Nachbarn ein. Oder sie brachten eine kleine Aufmerksamkeit mit. Umgekehrt waren wir zu Nauryz[1] bei unserer Nachbarin immer willkommen. Diese Feiern hatten oft weltlichen Charakter – es wurden Gerichte aus verschiedenen Küchen miteinander kombiniert, es wurde Gitarre gespielt und gesungen. Wir wuchsen alle in dieser postsowjetischen Vielfalt auf. Ich habe den Eindruck, die heutigen Bewohner lassen sich in Kasachen und Russischsprachige (die übrigen Nationalitäten) aufteilen. Traditionen und Bräuche werden zwar gepflegt, aber die meisten ziehen es vor, sich auf Russisch zu verständigen.
Zu Hause und in der Schule sprachen wir Russisch. Zwei- oder dreimal pro Woche hatten wir Kasachischunterricht, aber meist nur pro forma. Der Schwerpunkt lag auf Russisch und den Fächern, die auf Russisch unterrichtet wurden. Im Kasachischunterricht war das ganz anders. Die kasachischen Nachbarn wechselten ins Russische, wenn sie mit uns sprachen.
Schon als Kind habe ich Fremdsprachen geliebt. Ich wollte wissen, was in der “großen Welt” geschieht, ich interessierte mich für fremde Kulturen. Ich erinnere mich, dass ich viele Sprachen können wollte, ich träumte davon, Englisch und Französisch zu lernen. Das Bildungssystem in Kasachstan sieht Klassen mit Kasachisch und Russisch als Unterrichtssprache vor. Ich ging in eine Klasse mit Russisch als Unterrichtssprache, hatte also viel weniger Kasachischunterricht. Englisch sollte ab der fünften Klasse unterrichtet werden, aber wir hatten die Möglichkeit, Einzelunterricht zu nehmen – einmal pro Woche sollte eine Lehrerin in mein Dorf kommen. Leider fanden sich nicht genügend Schüler, sodass der Unterricht ausfiel, denn für die Lehrerin zahlte es sich nicht aus, zu kommen. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich war.
Umzug nach Polen
Als ich 11 Jahre alt war, gingen wir nach Polen. Zu Beginn des Jahres 2009 erhielten wir die Einladung. Als Aussiedler bekamen wir die Möglichkeit, uns dauerhaft in Polen niederzulassen; nach ein paar Tagen gingen meine Eltern auf ein Amt und tauschten unsere kasachischen Pässe gegen polnische aus. Vor dem Umzug mussten meine Eltern in einem Test minimale Polnischkenntnisse nachweisen. Mein Bruder und ich wurden in eine polnische Schule eingeschrieben. Ich sollte in den ersten drei Monaten nicht benotet werden und mich auf das Erlernen der Sprache konzentrieren. Mein Bruder wurde in einer Vorschule untergebracht und hatte als kleines Kind keine Schwierigkeiten, sich zu integrieren.
Bereits in den ersten Stunden nach meiner Ankunft wurde mir klar, dass mir meine mangelnden Polnischkenntnisse noch lange im Weg stehen würden. Als ich an einem dunklen Abend in Warschau mit meinen Eltern im Taxi unterwegs war, sah ich aus dem Fenster immer wieder das Wort “SKLEP”. Da ich die lateinischen Buchstaben kannte, dachte ich, es bedeute dasselbe wie “склеп”[2], was, ins Polnische übersetzt, Grab oder Krypta bedeutet. Ich fragte mich, was in einer so großen Stadt passiert sein musste, was so viele Gräber erforderte. In unserem kasachischen Dorf hatten wir einen kleinen Friedhof, das reichte. Vielleicht wütet in Polen eine Epidemie, dachte ich, denn ich hatte in einem Buch etwas über Epidemien gelesen.
Die ersten Monate in der polnischen Schule waren nicht einfach. Ich erinnere mich nicht gerne an diese Zeit. Zum einen musste ich erklären, wo Kasachstan liegt und was ich dort gemacht hatte. Zum anderen musste ich beweisen, dass ich nicht so viel anders war als meine Klassenkameraden. Meine Sitznachbarin war hoch erfreut, als sie sah, dass ich tatsächlich rechnen und die Beispiele im Mathematiktest, den wir in der ersten Woche hatten, lösen konnte. Ähnliche Begeisterung erweckte die Tatsache, dass ich wusste, wie man eine Zahnbürste benutzt.
Im Nachhinein weiß ich, dass es die meisten in meiner Klasse nicht böse meinten. Aber als Kind fühlte ich mich wegen dieser Behandlung minderwertig. In den ersten Wochen wurde ich mit Fragen bombardiert wie: Wisst ihr in Kasachstan überhaupt, was ein normales Haus ist, denn ihr seid ja immer noch Nomaden, oder? Ich muss aber zugeben, dass sich die Dinge im Laufe der Jahre geändert haben. Die meisten Polen wissen heute, wo Kasachstan liegt und wie die Polen dorthin kamen. Außerdem leben heute viele Ukrainer und Weißrussen in Polen. Vor allem seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs höre ich auf der Straße oft Russisch. Die Polen müssen sich also auch in diesem Bereich “bilden”. In diesen 14 Jahren habe ich selten Diskriminierung erlebt oder wurde verspottet, weil ich “Russin” bin. Was ich ja nicht bin, ich spreche nur Russisch.
Meine Eltern hatten die Möglichkeit, einen einjährigen Polnischkurs zu besuchen, der von der Regierung oder der Stadtverwaltung finanziert wurde. Sie kamen mit Ende 30 nach Polen und haben sich zwar recht gut integriert, aber sie vermissen ihre Familie und ihre Freunde. Oft telefonieren sie mit näheren und ferneren Verwandten und Freunden. Ihr polnischer Freundeskreis ist kleiner.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich keine Sprache so gut spreche wie einsprachige Menschen. Dass ich schon sehr gut Polnisch konnte, wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, als eine Dame in einem Sekretariat zu mir sagte, das Formular, das ich ausfüllen wollte, sei für Ausländer bestimmt. Ich solle ein anderes Formular ausfüllen. Ihr Ton war ziemlich scharf und sie konnte wahrscheinlich nicht verstehen, warum ich so breit lächelte. In diesem Augenblick spürte ich, dass ich vielleicht doch zu so manchem in der Lage bin.
Jahre später erlebte ich eine komische Situation. Ich wollte einer russischsprachigen Dame helfen, die sich in Warschau verlaufen hatte. Ich sprach sie auf Russisch an. Sie schaute mich einen Moment lang seltsam an und meinte dann eher spöttisch, man hätte uns (sie meinte wahrscheinlich die Polen) ein großes Unrecht angetan, als man uns gezwungen hätte, Englisch zu lernen. Englisch könnten wir immer noch nicht, aber auch auf Russisch könnten wir uns nicht mehr verständigen. Ich kannte die Namen mehrerer Museen nicht auf Russisch, also nannte ich sie auf Polnisch. Vielleicht war die Frau deshalb so verärgert. Sie war unfreundlich zu mir – aber ihre Bemerkung machte mir klar, dass die Sprachen in meinem Kopf die Plätze getauscht hatten. Polnisch hatte ich als zweite Sprache gelernt, also später als Russisch, aber ich habe schon mehr als die Hälfte meines Lebens in Polen verbracht und Polnisch ist jetzt meine erste Sprache.
Heute
Meine Faszination für Deutsch begann in der Mittelschule. Nach der Grundschule musste ich eine zweite Fremdsprache wählen, zusätzlich zu Englisch. Ich wollte in eine Klasse mit Französisch gehen, aber es war kein Platz mehr frei. Also meldete mich meine Mutter für Deutsch an. Ich war sehr enttäuscht, doch die Freundin, mit der ich zum Deutschkurs ging, meinte, ich könnte ja während des Jahres zu Französisch überwechseln. Nach den ersten Deutschstunden wurde mir klar, dass Deutsch die Sprache ist, mit der ich meine Zukunft verbinden möchte.
Jahrelang wollte ich etwas Exaktes studieren. Ich träumte davon, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Das Schicksal machte mich zur Dolmetscherin. Einmal war ich mit einer Freundin auf einer Buchmesse. Wir gingen an einem Autor vorbei, der sein Buch auf Russisch vorstellte. Sie wollte wissen, worum es geht und ich sagte, ich würde für sie übersetzen – wer die Sprache spricht, kann schließlich auch dolmetschen. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass das eine ziemliche Herausforderung war, denn ich konnte meiner Kollegin viele Dinge nicht erklären. Dann ergriff der Dolmetscher das Wort. Ich war begeistert – den Inhalt der Rede gab er flüssig, kohärent und genau wieder. Geschickt jonglierte er mit den Worten und gab auch Anspielungen sehr gut wieder. Hut ab!
Einige Zeit später begegnete ich einer Dolmetscherin der deutschen Sprache. Sie leitete eine Führung für deutsche Touristen – manchmal sprach sie selbst, aber meistens dolmetschte sie, was der Reiseführer sagte. So entdeckte ich die Welt der Dolmetscher. Sie ist faszinierend, erfordert viel Wissen und Disziplin, ist gleichzeitig auch geheimnisvoll. Später sah ich Dolmetscher oft in Kabinen oder an der Seite von Politikern. Ich las einiges über diesen Beruf und beschloss, Dolmetscherin zu werden. Als Dolmetscher kann man überall sein, über Langeweile kann man sich nicht beklagen. An einem Tag ist man auf einer Baustelle, in der darauffolgenden Woche dolmetscht man eine Logistikkonferenz. Ist das nicht schön? Momentan stehe ich noch am Anfang meines Berufsweges, aber ich werde alles tun, um meinen Traum zu verwirklichen.
Meine Beziehung zur russischen Sprache ist schwierig. Ich mag die Sprache immer noch sehr. Sie wird mich immer begleiten, aber ich benutze sie viel weniger, weil ich in dieser Sprache so viele grausame Dinge im Zusammenhang mit dem Krieg höre. Nach Kriegsbeginn entdeckte ich, dass einige russischsprachige Blogger Ukrainer waren, weil sie auf Ukrainisch umschalteten. Ich lese ihre Blogs immer noch an und verstehe das meiste. Einige Zeit nach Kriegsausbruch begann ich, ehrenamtlich zu arbeiten. Ich half bei Erledigungen auf Ämtern und in Krankenhäusern und war mehrmals am Bahnhof im Einsatz. Am Anfang fragte ich mich, ob ich mit den Menschen überhaupt Russisch sprechen sollte, denn sie waren vor anderen Menschen geflüchtet, die auch Russisch sprechen. Manchmal versuchte ich, Polnisch und Russisch zu mischen und ukrainische Wörter hinzuzufügen, wenn ich sie kannte.
Die allermeisten freuten sich einfach nur, dass sie jemand verstand und ihnen helfen wollte. Niemand hat je gefragt, woher ich komme. Fast alle meine Freunde, die Russisch sprechen oder Russisch lernen, beteiligten sich mehr oder weniger an der Hilfe. Ich glaube auch, dass die Tatsache, dass ich in dieser Sprache helfen konnte, mir teilweise geholfen hat, mit der Scham, dem Groll und vielen anderen extremen Gefühlen zu Rande zu kommen. Diese Gefühle werden mich für immer begleiten. Ich weiß, dass es immer Kriege gegeben hat. Es wird auch noch andere Kriege geben. Aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was der Sinn eines Krieges ist. Weder dieses noch irgendeines anderen. Ich hatte geglaubt, die Menschheit habe aus Fehlern gelernt und Kriege würden eines Tages verschwinden. Heute weiß ich, dass das schrecklich naiv war. Meine Großmütter und Urgroßmütter sagten immer: “Möge alles kommen, wie es kommt, solange es keinen Krieg gibt”. Meine Generation hält den Frieden für den Normalzustand, aber heute sehen wir, dass in dieser Welt selbst so schöne Werte wie Frieden und Freiheit nicht ewig Bestand haben. Ich wurde mir bewusst, dass ich die meisten Russen nicht verstehe, obwohl ich die Sprache kann. Früher hatte ich eine Reise nach Russland geplant, ich wollte unter anderem die Wohnung aus Bulgakovs Roman ‘Der Meister und Margarita’ sehen. Ich weiß nicht, ob ich jemals dorthin fahren werde. Heute verspüre ich aus offensichtlichen Gründen nicht den geringsten Wunsch, hinzufahren. Das Land macht mir Angst, obwohl es mich früher faszinierte.
Den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, habe ich noch nicht wiedergesehen. Oft ist die Rede von Nostalgie, aber wegen meines Alters habe ich sie wahrscheinlich nicht so stark gespürt. Als Kind wollte ich, bevor ich mich in Polen eingelebt hatte, unbedingt nach Kasachstan zurück. Eines Tages werde ich sicherlich zurückkehren, aber nur als Touristin. Kasachstan ist ein wunderschönes Land mit vielen Sehenswürdigkeiten und einer herrlichen Natur. Die Aufhebung der Visumspflicht für touristische und geschäftliche Aufenthalte von bis zu 30 Tagen ist ein zusätzlicher Motivationsfaktor. Ein paar Leute kenne ich noch von früher, aber die meisten Kontakte sind verloren gegangen. An den Feiertagen, an Geburtstagen, zu Weihnachten und zu Ostern schicke ich Grußkarten. Aber im Alltag haben wir keinen Kontakt, jeder führt sein eigenes Leben.
Über meine Identität habe ich oft nachgedacht. Als Kind konnte ich nicht verstehen, warum ich, deren Vorfahren aus Polen, Weißrussland und der Ukraine stammen, in Kasachstan lebe. Ich mag das Land sehr und fühle mich ihm verbunden. Heute fühle ich mich aber als Polin, auch wenn das vielleicht nicht alle Polen so sehen. Einen Großteil meines Lebens habe ich in Polen verbracht, ich liebe dieses Land und wünsche ihm alles Gute.”
[1] kasachisches Neujahr
[2] russisch „sklep“ = Grab; polnisch „sklep“ = Geschäft