In Weißrussland demonstrieren seit Wochen Zehntausende gegen das Regime und den Wahlbetrug am Sonntag. In Polen, Tschechien oder der Slowakei wird dieser Entwicklung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Ähnlich war es bei der Revolution am Kiewer Maidan vor sechs Jahren. In Westeuropa scheint man sich von diesen Ereignissen entfernt und eher wenig betroffen zu fühlen.
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Natürlich hat das Interesse in den postkommunistischen Ländern mit der eigenen Vergangenheit und der gemeinsamen Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich zu tun. Innerhalb der EU verläuft der Gradmesser des Interesses entlang der Trennlinie zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten.
Seit vielen Jahren pendle ich zwischen dem Osten und Westen Europas. Ich lebe im Osten und arbeite im Westen, aber es könnte auch umgekehrt sein. Wo genau der geografische oder politische Westen aufhört und der Osten beginnt, ist ein überaus heikles Thema und möge diesmal dahingestellt bleiben. Seit in der Kantine der europäischen Institution, für die ich arbeite, während einer kulinarischen Spezialitätenwoche auch Österreich schon zu Osteuropa gezählt wurde, ist mir klar, dass die Perspektiven sehr subjektiv sind. Als geborene politische Westeuropäerin geht es mir um etwas anderes: das ehrliche und unvoreingenommene Interesse des Westens am Osten.
In den vielen Jahren, die ich im Dienste Europas stehe und grenzüberschreitend lebe, haben mir Menschen – auch Kollegen – aus den neuen Mitgliedstaaten immer wieder anvertraut, sie fühlten sich manchmal wie Bürger zweiter Klasse. Man behandle sie gönnerhaft bis herablassend, wie Verwandte aus rückständigen Ländern. Kritik werde überrascht oder verärgert abgetan, als wolle man ihnen zu verstehen geben, sie sollten froh sein, überhaupt in den Club aufgenommen worden zu sein. Mit Letzterem liegen sie nicht falsch, diese Haltung habe ich bei Vertretern des Westens selbst beobachtet. Erstaunlich oft stößt man auch auf bemerkenswerte Ignoranz, die mehr als dreißig Jahre nach der Wende kaum zu erklären ist.
Ignoranz und Desinteresse bedingen sich gegenseitig: Was mich nicht interessiert, will ich auch nicht wissen. Es ist eine Tatsache, dass die Osteuropäer über uns und unsere Geschichte mehr wissen als wir über sie. Das war bereits vor 1989 der Fall. Auch Österreich war, trotz seiner geopolitischen Lage als Drehscheibe inmitten Europas und seiner ost- und südosteuropäischen Vergangenheit, nach 1945 in erster Linie westlich orientiert und in der Schule lernten wir nur wenig über die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs. Dank meines Entschlusses, später in den sogenannten, damals für mich praktisch unbekannten Osten zu gehen, hat sich dies radikal geändert und dafür bin ich sehr dankbar. Was ich durch die slawischen Sprachen, die Kultur und das Leben in Prag, meine Reisen und die Begegnung mit den Menschen in den postkommunistischen Ländern gelernt habe, hat den Horizont meines Denkens und meinen Blick auf Europa grundlegend verändert. Früher war er unvollständig, fragmentarisch und unbefriedigend. Heute ist Europa in mir zusammengewachsen und das halte ich für ein großes Glück.
Natürlich gibt es bei den Osteuropäern auch das, was ich als rasches Gekränktsein bezeichnen würde. Man reagiert empfindlich, ist schnell eingeschnappt oder beleidigt. Aus punktueller Unkenntnis der Westeuropäer werden weitreichende Schlüsse gezogen, Anspielungen oder gedankenloses Reproduzieren stereotyper Vorstellungen als persönlicher Angriff interpretiert. Das ist dem gegenseitigen Kennenlernen nicht zuträglich. Und natürlich muss bei aller weltanschaulichen Vielfalt auch Kritik an der Aushöhlung des Rechtsstaats im eigenen Land akzeptiert werden. Mehr noch – den Bürgern der betroffenen Länder sollte selbst daran gelegen sein, rechtsstaatliche und demokratische Werte zu schützen.
Seit die Teilung Europas überwunden ist, sitzen wir wieder im selben Boot. Doch Europa ist mehr als die EU, es endet nicht an ihren Außengrenzen. Was sich in Weißrussland oder der Ukraine tut, geht uns genauso an wie das, was sich in Norwegen, Großbritannien oder der Schweiz tut.