Es ist halb sechs Uhr früh und ich stehe auf, nach kurzem, unruhigem Schlaf. Gestern Abend hatte ich Kopfschmerzen und meine Arbeit als freiwillige Flüchtlingshelferin schien bedroht. Heute Morgen geht es mir besser. Von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends werde ich im Einsatz sein. Ich bin aufgeregt. Schaffe ich es rechtzeitig zum Eingang Nummer 10?
Das Prager Kongresszentrum, ein riesiger, brauner Klotz aus den brutalistischen Siebzigerjahren, thront an der Nusle-Brücke auf dem Vyšehrad, einem Ort mit atemberaubender Aussicht auf die Stadt. In der Pandemie war das Kongresszentrum ein Impfzentrum, seit Putins Überfall auf die Ukraine ist es das Prager Erstaufnahmezentrum für ukrainische Flüchtlinge.
Ich laufe um das Gebäude herum, bis ich Eingang Nr. 10 finde. Neben einem roten Feuerwehrzelt steht ein Polizeiauto, an der Absperrung wartet eine Frau. Sie hat sich ebenfalls als freiwillige Helferin gemeldet. Sonst ist niemand da. Nach ein paar Minuten beschließen wir, hineinzugehen. In der Eingangshalle stehen ein paar Polizisten, an einem Tisch mit Proviant schenken zwei Frauen Kaffee aus. Man bittet uns, Platz zu nehmen und zu warten. Ein paar Leute sitzen bereits am Tisch. Ich hatte eine größere Gruppe erwartet, doch es ist Montag und die meisten müssen zur Arbeit. Vielleicht waren am Wochenende mehr Freiwillige da.
Die beiden Frauen neben mir am Tisch sind Lehrerinnen, die an Prager Mittelschulen unterrichten. Für diesen Einsatz haben sie sich freigenommen. Nach einer Dreiviertelstunde werden wir abgeholt und durch die Gänge des Konferenzzentrums geführt, vorbei an künstlich beleuchteten Besprechungsräumen, in denen Organisationsteams sitzen. Ein paar Helfer werden ins Lager geschickt, um die Bestände aufzufüllen. Ich bin froh, dass ich nicht dabei bin, denn Kisten zu schleppen würde meinem Rücken nicht gut tun. Schließlich gelangen wir ans andere Ende des Gebäudes, wo es wieder Tageslicht gibt. Zusammen mit Anička, einer Marketing-Studentin, werde ich an ein paar Tischen am Eingang Nr. 1 Kaffee und Tee an die Ankommenden ausschenken. Snacks und Babynahrung haben wir auch.
An der Wand lagern Essensvorräte, Getränke, Servietten, Windeln, eine Babyschale, ein Kinderwagen, Pragprospekte auf Ukrainisch und Malsets für Kinder. Auch Hunde- und Katzennahrung bieten wir an.
Vorerst ist es unerwartet ruhig und ich nutze die Zeit, um mich umzusehen. Im dunkleren Teil des Erdgeschoßes stehen Sesselreihen und ein paar Tische, im ersten Stock, wo es heller ist, wurde eine große Kinderspielecke mit Betreuung eingerichtet, weiter vorne steht eine Handy-Aufladestation und vor dem Saaleingang bieten Helfer des Roten Kreuzes Verköstigung mit warmen Speisen an. Der riesige Konferenzsaal, in dem über 2 700 Menschen Platz finden, ist noch spärlich besetzt. In den hinteren Sitzreihen warten vereinzelte Gruppen, während auf die Bühnenleinwand Informationen in ukrainischer und/oder russischer Sprache über Visum, Versicherung und alles Wesentliche projiziert werden. Formulare liegen aus, Dolmetscher helfen beim Ausfüllen.
Ich gehe zurück an meinen Standort. Die Schlange vor der Erstregistrierung am Haupteingang wird länger. Von einem Polizisten oder Mitarbeiter der freiwilligen Feuerwehr geleitet, gehen Gruppen an uns vorbei zur Rolltreppe, über die sie in den ersten Stock gelangen. Dort geht es mit der Registrierung weiter. Die Menschengruppen werden zusehends größer. Vor allem Frauen mit Kindern, immer wieder auch ältere Personen. Ich bin erstaunt, wie wenig Gepäck die meisten dabei haben. Einige haben Koffer, viele nur eine kleine Tasche oder einen Rucksack. Das, was sie bei ihrer überstürzten Flucht vor Putins Bomben mitnehmen konnten.
Sie haben wohl gehofft, der Krieg würde bald vorbeigehen. In Kellern und Bunkern haben sie tagelang, manche sogar wochenlang, ausgeharrt. Doch der Krieg ging weiter und die Front rückte näher. Immer öfter schlugen Granaten und Raketen in der Nachbarschaft ein. Die russischen Angriffe richteten sich gezielt auch gegen Zivilisten und Wohngebiete, um den Widerstand der Bevölkerung zu brechen. Wer sein nacktes Leben retten wollte, ergriff die Flucht. Rasch rafften die Menschen das Notwendigste zusammen und machten sich auf an einen sicheren Ort. Dass es auch in der Westukraine keinen sicheren Ort mehr gibt, wissen wir spätestens, seit auch dort immer öfter Raketen einschlagen.
Die Erschöpfung steht den Flüchtlingen ins Gesicht geschrieben. Ihre Gesichter sind blass, ihre Blicke apathisch. Manche lächeln müde zurück, wenn ich lächle, andere reagieren nicht. Die Kinder scheinen diese Reise ins Ungewisse noch am besten zu vertragen, für sie ist alles neu, ein Abenteuer. Manche quengeln, denn auch sie sind erschöpft von der tagelangen Flucht. Mehrere Mütter sitzen mit ihren Kleinen beim Roten Kreuz am Eingang, die Kinder sind krank. Eine Helferin führt ein junges Mädchen hinaus, das kurz vor dem Kreislaufkollaps stand.
Eine junge Frau führt ihren Hund zu unserem Fressnapf. Die Menschen treten an unsere Tische und sehen sich um. Кава або чай, Tee oder Kaffee? frage ich. Das ist praktisch gleich im Tschechischen und Ukrainischen. Alles andere ist schwieriger. Manche möchten etwas, das ich nicht verstehe. Ich versuche es immer öfter mit dem Polnischen, das klappt erstaunlich gut, besser als mit Tschechisch. Wenn nichts Slawisches geht, versuche ich es mit Englisch. Das verstehen allerdings nur wenige.
Viele nehmen unser Angebot dankbar an. Wer weiß, wann sie das letzte Mal etwas Warmes getrunken haben. Manche kommen mehrmals zurück, um sich Nachschub zu holen. Die Kinder stürzen sich auf die Schokoladecroissants und Fruchtsaftpäckchen. Unsere Vorräte müssen immer wieder aufgefüllt werden, Kaffee und Tee neu aufgesetzt. Ich lerne, auf Ukrainisch oder Russisch zu sagen: Gern geschehen, Ласкаво просимо! Um antworten zu können, wenn sich jemand bedankt.
Eine Frau mittleren Alters fragt unvermittelt: Wo bekomme ich hier ein Visum, geben Sie mir ein Visum? Leider nein, antworte ich. Sie müssen mit der Registrierung dort vorne beim Eingang anfangen. Wo, fragt sie nervös, wo ist der Eingang? Dort, wo Sie hereingekommen sind. Sie dreht sich ängstlich um. Kommen Sie, sage ich und nehme sie am Arm, ich nehme Sie mit. Woher sind Sie, frage ich. Charkiw, sagt sie mit wirrem Blick, alles zerstört. Ich weiß, presse ich heraus, es ist schrecklich. Keine Angst, hier sind Sie sicher. Gehen Sie nicht weg, sagt sie. Mir treten die Tränen in die Augen. Wir stehen am Registrierungstisch. Alles Gute, sage ich, umarme sie und flüstere: Слава України, das geflügelte Wort für die Solidarität mit der Ukraine. An meinem Standort kehre ich um und laufe zu ihr zurück, um ihr mein Mittagessen, eine große mährische Topfenkolatsche, in die rosarote Handtasche zu stecken.
Ungefähr 250 000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind nach Tschechien gekommen, man rechnet mit mindestens 400 000. Unterkünfte in Prag sind kaum mehr verfügbar, händeringend werden Privatzimmer gesucht. Auch in der Provinz wird es knapp, die meisten Flüchtlinge werden nach mehreren Stunden Wartezeit im Kongresszentrum mit Autobussen in eine Provinzstadt gebracht, wo sie auf Feldbetten in Turnsälen schlafen. Für manche wird keine Unterkunft gefunden, sie müssen im Konferenzsaal auf den Sitzen übernachten. Eine Familie mit fünf Kindern lebt angeblich schon tagelang dort.
Manche Flüchtlinge sind Roma, vielleicht auch die erwähnte siebenköpfige Familie. Sie unterzubringen ist noch schwieriger, denn nicht jeder kommt mit dem Mentalitätsunterschied zurecht. Auch tschechische Roma als Nachbarn werden nicht von allen gern gesehen. Doch im Großen und Ganzen ist angesichts der Menge der innerhalb kurzer Zeit eintreffenden Menschen die Hilfsbereitschaft enorm.
Zu Mittag irrt eine zierliche, ältere Frau herum und bittet um Hilfe für ihre кошки, ihre Katzen. Auch sie ist aus Charkiw/Charkow. Wir verstehen zunächst nicht, was sie will. Sie ist aufgelöst und kann es nicht wirklich erklären. Es stellt sich heraus, dass sie zwei Katzen in Transportboxen dabei hat, denen es schlecht geht und die unbedingt aus den Boxen heraus müssen. Hier im Konferenzzentrum geht das nicht, ebensowenig wie im Turnsaal, in dem sie wahrscheinlich untergebracht werden wird. Für Flüchtlinge, die Tiere dabei haben, ist es weit schwieriger, unterzukommen. Die Frau ist verzweifelt und ich beschließe, ihr zu helfen.
Staatliche Tierheime in Prag können oder wollen keine Katzen mehr aufnehmen, wird mir telefonisch mitgeteilt. Ich solle mich doch an private Einrichtungen wenden. Schließlich gelange ich an eine Dame, die ein privates Tierheim führt und bereit ist, die Katzen aufzunehmen. Das Tierheim liegt etwas außerhalb von Prag, sei aber gut zu erreichen. Zweitausend Kronen pro Monat würde die Unterbringung und Verpflegung der beiden Vierbeiner kosten. Die Frau und ihr gut Englisch sprechender Sohn, der inzwischen eingetroffen ist, wollen ihre Hrywnja wechseln, um zahlen zu können. Das wird nicht so einfach sein, sage ich, Hrywnja werden in Banken und Wechselstuben kaum genommen. Insgeheim habe ich beschlossen, den ersten Monat der Katzenpension aus eigener Tasche zu finanzieren. In einer Stunde soll jemand mit dem Auto kommen, um die Katzen abzuholen und ins Tierheim zu bringen. Wir tauschen unsere Telefonnummern aus und ich bin erleichtert.
Als das Auto da ist, rufe ich den Sohn an. Niemand hebt ab. In der Menschenmenge, die inzwischen den Konferenzsaal bevölkert, kann ich die beiden nicht finden. Zwischendurch werde ich immer wieder angesprochen, weil ich eine Helferjacke trage. Ich schicke dem Sohn eine SMS. Bald darauf kommt seine Antwort: Angela, wir sind zusammen mit den Katzen unterwegs nach Ústí nad Labem. Entschuldigung für die Unannehmlichkeit und danke!
Ich bin verstimmt. Das hätte er mir früher sagen können. Was sage ich nun zu der Frau, die extra mit dem Auto hergekommen ist? Gott sei Dank ist sie nicht sauer. Ich gebe ihr Benzingeld und eine Spende fürs Tierheim. Letztlich ist die Geschichte gut ausgegangen: Menschen und Tiere sind in Sicherheit und können zusammenbleiben.
Am späteren Nachmittag werde ich müde. Seit sieben Uhr morgens sind wir auf den Beinen, ständig gab es etwas zu tun. Viele Helfer sind täglich im Einsatz: Polizisten, Sprachmittler (die meisten wohl Laien, aber jeder, der Ukrainisch oder Russisch kann, wird jetzt gebraucht), Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr, des Roten Kreuzes, der Pfadfinder, Ärzte, Psychologen, Traumaspezialisten, Putzfrauen, und viele mehr.
Es ist ein gutes Gefühl, zu helfen. Aber es ist kräftezehrend und kann belastend sein. Nicht alle Flüchtlinge sind nett und höflich, nicht alle Kinder artig und ruhig. Wer eine so radikal existenzielle Bedrohung wie den Krieg erlebt und aus seiner Lebenswirklichkeit herausgerissen wird, hat keine psychischen Reserven. Viele benötigen professionelle posttraumatische Hilfe, die aufgrund der mangelnden Kapazitäten und der Sprachbarriere sicher nicht allen sofort zuteil werden kann. (Sage ich nicht schon längst, man soll nicht nur gängige Westsprachen lernen? Dolmetschermangel gibt es vor allem in Sprachen, die schwieriger sind und die nur wenige zu lernen bereit sind).
Man darf nicht helfen, um Dankbarkeit zu ernten oder sich im Helferglanz zu sonnen. Man darf auch die eigenen Fähigkeiten nicht überschätzen. Man muss helfen, weil Menschen Hilfe brauchen. Auf ihre Bedürfnisse reagieren, ihnen geben, was sie brauchen und wann sie es brauchen.
Als ich im Zug nach Hause sitze, fallen mir die Augen zu. Einen Spaltbreit habe ich erfahren, was es bedeutet, zu helfen. In Wirklichkeit habe ich mein bequemes Leben nicht verlassen. Mein Beitrag ist ein Tropfen im Meer, aber vielleicht ist es mir heute gelungen, die Tür für ein paar Menschen einen Spaltbreit weiter aufzumachen, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie in diesem Land willkommen sind. Es soll nicht mein letzter Versuch geblieben sein.