Ich gebe zu, ich hatte Vorurteile gegen das Erzgebirge. Vom sauren Regen zerfressene Wälder, verwahrloste Dörfer, triste soziale Verhältnisse, gespenstische Gesichts- und Geschichtslosigkeit des Sudetenlands.
Den Ausschlag für unsere Fahrt ins Erzgebirge gab Schmitke, das Spielfilmdebüt des jungen tschechisch-deutschen Regisseurs Štěpán Altrichter. Am Montag sahen wir den Film, am Freitag machten wir uns auf den Weg. Am Wochenende wichen meine Vorurteile verwunderter Faszination. Mehr zu Schmitke demnächst.
Abertham ist der deutsche Name einer Kleinstadt im westlichen Erzgebirge. Der hoch gelegene Ort ist eine Ansammlung ansehnlicher und unansehnlicher Häuser, baufälliger Villen, mit EU-Geldern und der Unterstützung ehemaliger deutscher Bewohner restaurierter Gebäude, einem zubetonierten Marktplatz mit wenig Grün und sozialistischen Plattenbauten, die in dieser Lage niemand erwarten würde. Der Konzum u Lindů am Ortseingang lässt ein Gemischtwarengeschäft alten Stils vermuten.
Im Schaukasten des Infozentrums am Marktplatz hängt ein Bild mit zwei Kindergärtnerinnen und vier Kindern. Zwei davon sind Vietnamesen. Auch der Selbstbedienungsladen am Eck wird von Vietnamesen geführt. Ein windgebeuteltes Banner an der Mauer eines ehemaligen Restaurants, in dessen Aufschrift der letzte Buchstabe fehlt, bietet das graue Gebäude zum Verkauf an. Zwei verblichene Schilder versprechen Unterkunft und Discospaß. Viele leerstehende Häuser sind seltsam groß und wirken wie Fabriken. Das waren sie auch.
Abertham war einmal die Handschuhhauptstadt Europas. Im Erdgeschoß des Rathauses betreten wir das Handschuhmuseum, eine Ausstellung der Geschichte und Fertigung Aberthamer Handschuhe, mit originalen Stanzgeräten, Nähmaschinen aus der letzten Fabrik und Handschuhen aus feinstem Ziegenleder. Herr Krakl, der letzte große Mann vom Fach, ist nicht da. Er geht um diese Zeit Mittagessen, meint die Dame am Empfangstisch, in die Käserei am Eck. Aber vielleicht kommt er vorher vorbei, wenn Sie warten wollen.
Wir warten. Um den großen Tisch mit zahlreichen Exponaten und Publikationen wurden gusseiserne Spezialnähmaschinen, einige davon hier konzipiert und gebaut, Stanzeisen, Pressen und elektrisch aufheizbare Bügelhände aufgestellt.
An den Wänden hängen Bilder der ehemaligen Manufakturen, Musterhandschuhe, edle Einzelstücke und eine Vita des Gründervaters Adalbert Eberhart. Der gebürtige Aberthamer hatte Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien Handschuhmacher gelernt und trug sein Wissen in die Heimatstadt zurück, wo die Bevölkerung nach dem Niedergang des Silberbergbaus darbte. Das neue Handwerk wurde dankbar aufgegriffen und verschaffte dem Ort Reichtum und Weltruhm.
1937 wurden in 34 Betrieben von 11 500 Beschäftigten aus Abertham und Umgebung 6 630 000 Paar Handschuhe gefertigt. Der Jahresgewinn belief sich auf 65 Millionen Kronen, für die damalige Zeit und einen Ort von etwas mehr als dreitausend, überwiegend deutschsprachigen Einwohnern eine unglaubliche Summe. Das Gros der Erzeugung ging in den Export, vor allem nach Großbritannien und in die USA. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts errichteten wohlhabende Aberthamer Fabrikanten großzügige funktionalistische Villen, wie die wunderschöne, aber nicht ganz glücklich restaurierte, zu einem Gästehaus umgebaute Vila Victoria, in der wir Quartier bezogen.
1938 musste die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen das Sudetenland an Hitler abtreten und als der Zweite Weltkrieg begann, wurden die Männer eingezogen und die Überseemärkte brachen ein.
Gerhard Krakl ist einer der wenigen Sudetendeutschen, die nach dem Krieg nicht vertrieben wurden. Der Neunundsiebzigjährige mit den wachen Augen nimmt neben mir auf einem Sessel im Handschuhmuseum Platz, schlürft einen Café Latte und erzählt.
Als kleiner Junge war er mit seiner Familie und einem Onkel im ehemaligen Hotel Uran untergebracht, jenem grauen Gebäude am Marktplatz, das schon lang zum Verkauf steht. Auch dieses Haus war früher eine Handschuhfabrik.
Nach dem Krieg und dem Ende der Naziherrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren stehen die Zeichen auf Vergeltung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen beginnt. In Abertham müssen die deutschen Bewohner eine Armbinde tragen und dürfen nicht auf dem Bürgersteig gehen. Der Onkel wird abgeschoben, doch Krakls Vater wird als Spezialist eingestuft und für die Fortführung der Handschuherzeugung gebraucht. Die Mutter wird beim Waschen von Urangestein in Jáchymov eingesetzt, das für das sowjetische Atomwaffenprogramm strategische Bedeutung hat. Als Gerhard 1946 in die Schule kommt, kann er kein Wort Tschechisch, denn zu Hause wurde nur Deutsch gesprochen. Als Sudetendeutscher darf er in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht studieren und erlernt in Dobříš das Handschuhgewerbe. 1948 werden die Aberthamer Betriebe verstaatlicht und dem mittelböhmischen Handschuhkombinat Dobříš zugeschlagen. Nach dem Militärdienst kehrt Krakl ins Erzgebirge zurück und tritt in den väterlichen, mittlerweile staatlichen Betrieb ein. Bis in die Fünfzigerjahre bleibt Deutsch Betriebssprache; alle Anleitungen und Mitteilungen werden vom Vater in deutscher Sprache abgefasst. Als diesen ein Tscheche ablöst, wird Tschechisch Betriebssprache und Krakls Schwester muss die tschechischen Texte für den Vater, der kaum Tschechisch kann, ins Deutsche übersetzen.
1964 kommt erstmals ein mit Aussiedlern besetzter, westdeutscher Autobus nach Abertham, das nunmehr Abertamy heißt. Gerhard Krakl isst zum ersten Mal eine Banane. In den Sechzigerjahren fährt er dreimal nach Bayern, um Verwandte zu besuchen. Die vertriebenen Sudetendeutschen haben auch dort Handschuhmanufakturen gegründet. 1968 verlässt die Hälfte der wenigen, im tschechischen Erzgebirge verbliebenen Deutschen das Land, doch Krakl bleibt. Er heiratet 1969 eine Slowakin, gründet eine Familie und arbeitet sich nach und nach zum Direktor hoch. Während die bayrischen Kleinbetriebe dem wachsenden Druck billiger Massenproduktion ausgesetzt sind, erlebt die tschechische Handschuherzeugung einen neuerlichen Aufschwung und in den Siebzigerjahren werden wieder über eine Million Paar Handschuhe exportiert. Die tschechoslowakischen Teilnehmer an den Olympischen Winterspielen im japanischen Sapporo 1972 tragen Aberthamer Handschuhe mit einem Emblem in den Farben der Staatsflagge.
Auch Gerhard Krakl ist neben der Arbeit dem Wintersport zugetan und vertritt die Tschechoslowakei als Schiedsrichter bei internationalen Schisprungbewerben. Als er in den Achtzigerjahren nach St. Moritz berufen wird, besteigt er mit wenig Geld in der Tasche einen Zug nach Wien, wo er eine Fahrkarte in die Schweiz löst. Der Rest reicht für ein Bier und eine Ansichtskarte an die Ehefrau. Bei der Ankunft in St. Moritz hat er keinen Pfennig mehr.
Zu den Tschechen hatte ich in all den Jahren ein gutes Verhältnis, sagt Herr Krakl. Sein Tschechisch ist akzentfrei. Als wir vom Tschechischen ins Deutsche wechseln, bemerke ich, wie weit sein Aberthamer Dialekt von meinem österreichischen Deutsch entfernt ist. Seit der Öffnung hat er zwar öfter als vorher Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, doch manchmal sucht er nach Worten. Ein natürlicher, der dominanten Umgebungssprache geschuldeter Umstand.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs beginnt auch für die tschechische Handschuherzeugung eine neue Ära. Im internationalen Preiswettbewerb kann sie sich nicht gegen Billigware aus China behaupten und am 31. Dezember 1998 schließt der Aberthamer Betrieb für immer seine Tore. Gerhard Krakl war sein letzter Direktor. Seither steht das Fabriksgebäude am Ortsrand leer.
Manchmal werden im Handschuhmuseum noch Handschuhe hergestellt. Die Besucher sind begeistert und so mancher wäre bereit, für handgefertigte Glacéhandschuhe aus Abertham viel Geld zu bezahlen. Doch eine gewerbliche Fertigung wie früher wird es wohl nicht mehr geben.
Ich habe Herrn Krakl lange aufgehalten, unsere Latte-Gläser sind leer und sein Mittagessen wartet. Wir verabschieden uns. Für ihn wird es bald einen anderen, schmerzlicheren Abschied geben. Die Umzugsleute räumen seine Wohnung und er wird in ein Seniorenheim in Karlovy Vary ziehen. Ob ihm Abertham fehlen wird? Was für eine Frage. Dieser Ort und die Handschuhe waren sein Leben.
Dieser Text ist der erste Teil einer Trilogie über das Erzgebirge.