Elias Alder, der geniale Organist in Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“, hatte als Kind eine überwältigende Sinneserfahrung, die von einem Rezensenten des Buches als Hörsturz bezeichnet wurde. So zumindest hatte ich es in Erinnerung, als ich die Stelle nach vielen Jahren suchte.
Was Elias erlebte, war aber kein Hörsturz. Es war ein Wunder des Hörens. Freilich war er gestürzt, bevor sich sein Gehör vervielfachte, ihm die Empfindung der Zeit abhanden kam und sich „Geräusche, Laute, Klänge und Töne auftaten, die er bis dahin in dieser Klarheit noch nie gehört hatte“, gewaltige Klangszenarien „von ungehörter Pracht und Fürchterlichkeit“, wie er sie später auf der Orgel inszenieren sollte. Es war ein Stürzen hin zum Hören aller Töne der Welt.
Ich hatte zuvor etwas erlebt, was mir die Töne der Welt genommen hatte. Eines Nachts im Mai wachte ich auf und vernahm ein lautes Pfeifen im linken Ohr. Dann war das Ohr weg. Physisch war es noch da, doch es war taub und fühlte sich an wie ein pelziger Fortsatz an meinem Kopf. In der linken Kopfhälfte machte sich ein Rauschen breit.
Ich hatte so etwas noch nie erlebt und meinte zunächst, ein großer Pfropf hätte den Gehörgang verstopft. Das hatte ich schon öfter gehabt. Doch nach der ärztlichen Entfernung des Pfropfes, der tatsächlich vorhanden war, wurde es nicht besser. Bei einem Hörtest stellte sich heraus, dass ich links kaum etwas hörte. Der Verlust war gravierend, achtzig bis neunzig Prozent. Die Ärztin verschrieb mir sofort Kortisontabletten und meinte, in ein paar Tagen würde es besser.
Es wurde nicht besser. Ich nahm zweieinhalb Wochen Kortison in hoher Dosierung ein, konsultierte verschiedene Ärzte, doch mein Gehör kehrte nicht zurück und die Hörtests waren konstant schlecht. Die Prager Ärzte hatten mir nichts mehr anzubieten. „Sie haben schon ein gewisses Alter“, meinte einer. „Finden Sie sich damit ab. Es gibt Hörgeräte.“
Ich war verzweifelt. Nun könnte man einwenden, es gäbe Schlimmeres, zum Beispiel Erblinden. Das ist richtig, doch wenn man beruflich auf sein Gehör angewiesen ist, ist ein Hörsturz schlimm genug. Ich konnte meinen Beruf nicht mehr ausüben. Zum Dolmetschen braucht man beide Ohren: Mit dem einen nimmt man das Gesagte auf, mit dem zweiten kontrolliert man den eigenen Output.
Ein Hörsturz ist nicht nur beruflich einschränkend, er macht auch das Privatleben und den Alltag zum Stress. Ich konnte an Gesprächen kaum mehr teilnehmen, da mir das meiste in unnatürlicher Lautstärke wiederholt werden musste, und gleichzeitig war ich sehr lärmempfindlich. Stadtlärm, mehrere Stimmen gleichzeitig, alles war störend und belastend. Ich ermüdete rasch und konnte mich nur mehr schlecht an das Gesagte erinnern, weil die Anstrengung des Hörens meine Kapazitäten erschöpfte. Das Warten auf einen Autobus an der mehrspurigen Prager Stadtautobahn, auf der die Fahrzeuge an mir vorbeibrausten, war die akustische Hölle. Das rechte Ohr, mein gutes – obwohl auch dieses nicht optimal hörte, wie sich herausgestellt hatte, kompensierte den Hörverlust nicht. Es war überfordert und filterte nicht mehr.
Mein Hörsturz war verbunden mit Tinnitus, Phantomtönen in den verschiedensten Höhen und Varianten, die das Gehirn produzierte, weil es vom linken Ohr keine Informationen mehr bekam.
Schwerhörigkeit ist keine Lappalie, wie sie bei alten Menschen manchmal belächelt wird. Sie bedeutet einen enormen Verlust an Lebensqualität, das wurde mir in dieser Zeit bewusst.
Die Ursachen für einen Hörsturz sind unterschiedlich, bleiben meist jedoch unklar. Die Haarzellen des Innenohrs, deren Anzahl begrenzt ist – so wie der weibliche Organismus nur über eine begrenzte Anzahl von Eizellen verfügt, liegen flach. Neuere Erkenntnisse bringen den Hörsturz mit einer Durchblutungsstörung in Verbindung. Natürlich können auch Stress oder das Alter eine Rolle spielen.
Ich habe in dieser Zeit viel über meinen Lebensstil, meine Unrast und Ungeduld, nachgedacht. Gibt es in deinem Leben etwas, das du nicht mehr hören willst? Auch diese Frage habe ich mir natürlich gestellt. Vielleicht sind es manche meiner inneren Stimmen, vielleicht auch familiäre Streitereien.
Manchmal redete ich mit meinem linken Ohr, massierte es und flüsterte ihm zu: Spring an! Ich weiß, dass du noch da bist.
Es ist tatsächlich zurückgekehrt. Das habe ich einem Wiener Arzt zu verdanken, der eine sogenannte intratympanale Kortisontherapie durchführt – Kortisonspritzen direkt ins Ohr. Vor diesen Spritzen hatten mich die Prager Ärzte gewarnt: “Sie könnten völlig ertauben!“ Als ich im Wartezimmer saß, sagte die Angst: Noch kannst du fliehen! Doch ich blieb und habe es nicht bereut. Nach insgesamt drei Spritzen ist mein linkes Gehör weitgehend zurückgekehrt. Der ursprüngliche Hörverlust von achtzig bis neunzig Prozent konnte auf dreißig reduziert werden. „Mehr geht wahrscheinlich nicht“, meinte der Arzt. „Das hatten Sie vorher schon.“ Damit kann ich leben. Eigenartig, dass die Schulmediziner eines EU-Landes etwas mit Erfolg praktizieren, wovor die Ärzte im Nachbar-EU-Land eindringlich warnen.
Das Vogelgezwitscher im Wienerwald, die Gespräche der Menschen in der Straßenbahn, eine Melodie aus einem offenen Fenster, ja sogar das Rattern der U-Bahn oder die Stimme aus dem Lautsprecher – all das wieder zu hören, erfüllte mich mit wahrer Dankbarkeit. Es war wie eine Wiedergeburt, die Welt war mir nicht mehr abhanden gekommen, sie gehörte mir wieder. Auch meinen Beruf kann ich wieder ausüben.
Der Tinnitus ist noch da, aber schwächer. Vor allem abends oder wenn ich aus einer geräuschvollen Umgebung in eine ruhigere zurückkehre. Komm zur Ruhe, sagt er, lass es langsamer angehen. Das versuche ich nun, manchmal zumindest.